Seit fünf Jahren lebt Familie Surkhabi, die aus Afghanistan floh, in Bierkeller, einem Ortsteil von Langenargen. Doch dann muss die neunköpfige, hier gut integrierte Familie von heute auf morgen ins frühere Tennisheim ziehen. Eine Notunterkunft, die der Langenargener Gemeinderat Tizio Pfänder (Grüne) jüngst öffentlich „menschenunwürdig“ nannte.
Zwei Tage im Krankenhaus nach Pfefferspray-Attacke
Nach Aussage von Bürgermeister Achim Krafft geschah dies „aus Sicherheitsgründen“. Der Grund: Die 16-jährige Tochter wurde von einer Mieterin im Haus so mit Pfefferspray attackiert, dass das Mädchen zwei Tage im Krankenhaus war. Das Wohl der Kinder sei in Gefahr, begründet Achim Krafft die Zwangsumsetzung. Dabei wollte die Familie gar nicht ausziehen – trotz der enormen Spannungen mit jener Frau, die unter ihnen wohnte und die Sabi Surkhabi, der älteste Sohn, nun unverhohlen „Rassistin“ nennt.

Der 21-Jährige ist derzeit das Familienoberhaupt, sein Vater sitzt in der Türkei fest. Mutter Ayges hat das Trauma der über drei Monate dauernden Flucht mit einem Baby und zwei Kleinkindern nicht überwunden und ist in Behandlung. „Ich war an dem Samstag bei der Arbeit, als Reyhana gegen 14 Uhr weinend anrief. Ich war schockiert, als ich hörte, was passiert war“, erzählt Sabi Surkhabi.
Auch die Dreijährige bekam Pfefferspray ab
Er sei sofort nach Hause gefahren und musste feststellen, dass auch die erst dreijährige Surja rote, stark tränende Augen hatte, obwohl sie hinter ihrer Schwester im Treppenhaus stand, als sie bei der Mieterin klingelte. Ein Kleidungsstück war vom Balkon in den Garten der Frau geweht, Reyhana habe dies holen wollen, berichtet er. Die Frau habe mit Pfefferspray gedroht und seiner Schwester nach dem zweiten Klingeln das Gas direkt ins Gesicht gesprüht. Die Polizei kam.
Die Anzeige sei beim Polizeiposten Langenargen noch in Arbeit, bestätigt Oliver Weißflog vom Polizeipräsidium Ravensburg. Erst nach Abschluss der Ermittlungen gehe die Akte an die Staatsanwaltschaft Ravensburg. Auch diese bestätigt auf Anfrage, dass „der Vorgang noch nicht bei uns, sondern derzeit bei der Polizei“ sei.
„Wir haben Herrn Meinel immer Bescheid gesagt“
Für die Surkhabis stellt die Pfefferspray-Attacke gegen die zierliche, kaum 1,60 Meter große Reyhana den Gipfel dessen dar, was sie seit ihrem Einzug haben aushalten müssen. „Wir haben uns fast fünf Jahre beleidigen lassen“, beklagt Sabi Surkhabi. Neben alltäglichen Beschimpfungen von „Taliban„ bis „Schlampe“ habe die Frau vor zwei Jahren einmal den Kot ihres Hundes auf dem Kinderwagen verschmiert.
Ein anderes Mal habe sie „sch... Fotos“, so der 21-Jährige, im Hausflur aufgehängt, die schlimme Zustände in ihrem Heimatland zeigten. „Wir haben Herrn Meinel immer Bescheid gesagt, aber er hat nichts gemacht“, erklärt Sabi Surkhabi. Gemeint ist der Integrationsbeauftragte der Gemeinden Langenargen, Eriskirch und Kressbronn, Mirko Meinel.
Bürgermeister steht hinter seinem Integrationsbeauftragten
Bürgermeister Achim Krafft stellt sich hinter Mirko Meinel, bescheinigt ihm „sehr viel und gute Arbeit“. Er lässt ihn selbst allerdings nicht zu Wort kommen, obwohl der SÜDKURIER den Integrationsbeauftragten um Stellungnahme bat. Hausintern wären ihm Streitigkeiten bekannt gewesen, so Krafft, die sich aber eher „im Problemkreis des Zwischenmenschlichen“ abspielten, urteilt der Bürgermeister.
Nach der Pfefferspray-Attacke vor sieben Wochen sieht er das Ganze offensichtlich anders. Denn nach dem Vorfall drängte Mirko Meinel die Familie zum Auszug, obwohl sie trotz allem bleiben wollte. „Er hat uns gesagt, dass er das Jugendamt rufen muss, wenn wir nicht rausgehen, und die nehmen uns dann die Kinder weg“, erzählt Sabi Surkhabi und schließt mit dem Satz: „Wir hatten Angst, was sollten wir machen?“

„Die Familie wurde aus Sicherheitsgründen aus der Wohnung herausgenommen. Da hier eine Kinderwohlgefährdung gesehen wurde, kam der Integrationsbeauftragte nach Abwägung der Gegebenheiten zu diesem Schluss.“Achim Krafft, Bürgermeister von Langenargen
Bürgermeister Achim Krafft bestätigt das. „Die Familie wurde aus Sicherheitsgründen aus der Wohnung herausgenommen.“ Und weiter: „Da hier eine Kindeswohlgefährdung gesehen wurde, kam der Integrationsbeauftragte nach Abwägung der Gegebenheiten zu diesem Schluss.“
Wäre die Familie in der Wohnung geblieben, hätte „tatsächlich das Jugendamt informiert werden müssen“, schreibt Krafft. Immer wieder werde schließlich der Vorwurf laut, Jugendämter oder Rathäuser würden bei Missbrauch oder Gefährdung von Kindern zu lange abwarten oder gar nicht reagieren. „Die Gemeinde Langenargen hingegen hat sofort und umgehend reagiert.“

Weil nach Ansicht der Gemeinde die Mieterin also das Wohl der Kinder dieser afghanischen Familie gefährdet, musste sie aus der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung in Bierkeller raus und in die Notunterkunft ziehen. Sabi Surkhabi nennt das alte Tennisheim nur „Loch“. Er habe tagelang geputzt, doch Spinnen und Schaben fühlten sich immer noch wohler dort als sie.

Es gibt ein WC – beim Zweiten ist die Tür verschlossen – und eine Dusche, beide ohne Tageslicht und Lüftung. Keine Schränke, nur alte Umkleidespinde. Zwei intakte Einzelbetten, ein Stockbett.

Vier Kinder und die Mutter schlafen auf Matratzen, die tagsüber an der Seite aufgestapelt werden, um Platz auf dem Teppich zum Essen zu schaffen, wenn es draußen regnet. Dann ist allerdings nicht nur die Terrasse geflutet, auf der es eine kleine Sitzecke gibt.
Aus Sicht des Kreisgesundheitsamtes bestehe zwar „keine akute Gesundheitsgefahr“. Allerdings wurden Mängel bei einer Besichtigung am 30. Juli protokolliert – „unter anderem die nicht funktionierende Lüftung des Toilettenraums, die nicht ausreichend befestigte Toilettenschüssel, feuchte Wandflächen in Küche und Schlafraum“, so Kreissprecher Robert Schwarz auf unsere Anfrage. Fazit: Die Notunterkunft könne weiter betrieben werden, „wenn die darin aufgeführten Mängel behoben werden“.

Und nun? „Zum weiteren Verfahren und der angedachten Unterkunft werden wir natürlich keine Auskünfte geben“, schreibt Bürgermeister Krafft. „Wir sind jedoch sehr bemüht, hier in den nächsten drei Wochen eine schnelle Lösung zu finden.“
Die Surkhabis könnten sich problemlos eine eigene Wohnung leisten, fast täglich sucht Sabi die einschlägigen Portale ab. Bisher blieb jede Bemühung vergeblich. Seine Familie wolle kein Vermieter haben, sagt er traurig. Und so bleibt die Familie auf die Gemeinde angewiesen, die sie ungefragt dort unterbringt, wo gerade Platz ist. Und sei der noch so schäbig.