Ein unbedachter Griff bei der Hilfestellung im Schwimmtraining oder doch ein gezielter sexueller Übergriff des Übungsleiters – eine Grauzone, die Tätern ihr Handeln erleichtert. Bieten Sportvereine mit ihrer speziellen Beziehung zwischen Trainer und Kindern einen besonderen Nährboden für sexualisierte Gewalt? Aktuelle Studien zeigen alarmierende Zahlen: Das Forschungsprojekt "Safe Sport" der Deutschen Sporthochschule Köln und des Universitätsklinikums Ulm kam zu dem Ergebnis, dass etwa ein Drittel der 1800 befragten Kadersportler schon einmal eine Form von sexualisierter Gewalt im Sport erfahren hat. Gleichzeitig führt die Studie an, dass in Vereinen mit einer klar kommunizierten "Kultur des Hinsehens" das Risiko für alle Formen sexualisierter Gewalt signifikant geringer ist. Allerdings gibt nur ein Drittel der Vereine an, sich aktiv gegen sexualisierte Gewalt im Sport einzusetzen.
Um Tätern in den Vereinen keinen Nährboden zu bieten, wurde bereits 2012 das Bundeskinderschutzgesetz verabschiedet. Seit dem vergangenen Jahr arbeiten immer mehr Vereine der Region gezielt an der Umsetzung dieses Gesetzes, das von allen an der Jugendarbeit Beteiligten ein erweitertes Führungszeugnis fordert, in dem unter anderem auch Straftaten im minderschweren Bereich sowie Jugendstrafen von mehr als einem Jahr wegen schwerer Sexualstraftaten zu sehen sind. "Wir wollen niemand unter Generalverdacht stellen", betont Werner Feiri, Leiter des Kreisjugendamtes Bodenseekreis. Jedoch sei ein transparentes Konzept zur Prävention sexualisierter Gewalt und Intervention die Grundlage für eine Reduzierung der Gefährdungsmomente.
Warum das Gesetz erst fünf Jahre nach dem Inkrafttreten bei den meisten Vereinen umgesetzt wird, erklärt Feiri: "Das Gesetz beinhaltet keine Handlungsempfehlungen und wir wollten den Vereinen ein Modell an die Hand geben, wie sie ressourcenschonend die Umsetzung bewerkstelligen können." Im Bodenseekreis besteht daher für die Vereine die Möglichkeit, die erweiterten Führungszeugnisse gesammelt für die Übungsleiter kostenlos zu beantragen.
Mit einem ausgearbeiteten Präventionskonzept hat der Hockeyclub Markdorf bereits ein Zeichen gegen sexualisierte Gewalt gesetzt. Die Reaktion der Trainer sei im ersten Moment zwiespältig gewesen. Zunächst hätten einige Übungsleiter neben dem Verständnis für die Bedeutung des sensiblen Themas befürchtet, dass dem Verein noch mehr Verwaltungsarbeit aufgebürdet werden würde, erzählt Oliver Haase, Vorsitzender des Hockeyclubs. "Durch die vereinfachte Antragstellung des Führungszeugnisses in Form eines Sammelantrags und die Unterstützung des Kreisjugendamts war der Aufwand aber überschaubar." Der Antrag für das erweiterte Führungszeugnis stellte aber nur den ersten Schritt dar, neben einem stimmigen Gesamtkonzept konnte im Verein eine Aufmerksamkeitskultur geschaffen werden. Im Hockeyclub erinnert nun ein Ehrenkodex die Trainer nicht nur an das eigene vorbildliche Verhalten, sondern ermahnt auch zur Achtsamkeit im eigenen Umfeld "Schließlich können sexuelle Übergriffe auch unter den Kindern und Jugendlichen stattfinden sowie außerhalb des Vereinslebens", so Haase.
Auch die SpVgg F.A.L aus der Gemeinde Frickingen setzt in der Abteilung Fußball auf einen Verhaltenskodex und Verhaltensregeln im Umgang mit Jugendlichen. Ab der Saison 2017/2018 tritt im Verein die Nachweispflicht eines Führungszeugnisses der Trainer und Betreuer in Kraft.
"Der Aufbau eines Präventionskonzepts funktioniert aber nicht mit der Hammermethode, sondern ein Mosaiksteinchen nach dem anderen ergibt das Gesamtbild", sagt Ute Wilkesmann, Vorsitzende des Frauenausschusses des Südbadischen Fußballverbands und der Projektgruppe "Prävention sexualisierte Gewalt" des Deutschen Fußballbundes. Kein Verein müsse hierzu das Rad neu erfinden. Neben der Unterstützung vom Kreisjugendamt kann auch auf ausgearbeitete Konzepte der Sportbünde, wie der Deutschen Sportjugend, zurückgegriffen werden.
Für Verwirrung sorgt bei der Umsetzung oft der Geltungsbereich des Gesetzes. So arbeitet der TV Meßkirch zurzeit an der Formulierung einer Verpflichtungserklärung für aller im Jugendbereich ehrenamtlich Tätigen. Aber wer gehört dazu? Benötigt auch der Vater, der seine Tochter und deren zwei Freundinnen regelmäßig zum Wettkampf fährt, ein erweitertes Führungszeugnis? Laut Werner Feiri sei hier die Regelmäßigkeit des Kontaktes zu den Kindern entscheidend. "Hier geht es darum, zu beurteilen, wann jemand die Chance hätte, ein Vertrauensverhältnis zu dem Kind aufzubauen." Bei Veranstaltungen, die vom Verein organisiert werden, ist dieser auch in der Pflicht. Wenn Eltern ihre Kinder zum Training fahren, falle das allerdings nicht unter das Bundeskinderschutzgesetz, da es sich um einen privaten Raum handle.
Ein umfassendes Konzept zum Kinder- und Jugendschutz hat auch der Turn- und Sportverein Meersburg erstellt. "Sämtliche Übungsleiter müssen neben der Selbstverpflichtungserklärung einen Verhaltensleitfaden und Ehrenkodex unterzeichnen", erklärt Herbert Obser vom TuS. Zusätzlich seien Vertrauenspersonen implementiert worden, die bei Vorfällen als Ansprechpartner dienen. Das Präventionskonzept gebe auch den Übungsleitern und Trainern Handlungssicherheit im Umgang mit den Kindern: "Wir wollen ein achtsames und respektvolles Miteinander im Verein fördern."
Diese Form der Aufmerksamkeitskultur im Verein schreckt potentielle Täter ab, weiß Iris Gerster, Leiterin der Beratungsstelle Morgenrot. Die Beratungsstelle unterstützt die Vereine nicht nur bei der thematischen Umsetzung der Schutzkonzepte, sondern vor allem im Ernstfall, wenn ein Verdacht besteht. Täter gehen systematisch vor und versuchen, gezielt das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, berichtet Iris Gerster aus ihren Erfahrungen. "Meist wird über ein Versprechen gezielt Druck auf das Kind ausgeübt". Gerster und ihre Mitarbeiter betreuen die von den Vereinen eingesetzten Vertrauenspersonen hinsichtlich des Umgangs mit einem Betroffenen. "Wichtig ist es, dem Kind Sicherheit zu geben und die Haltung zu entwickeln: Ich höre dir zu und ich glaube dir", erklärt sie. Oft sei es bei einem Anfangsverdacht für den Vereinsvorstand schwierig, da der einerseits für den Umgang mit dieser Situation nicht ausgebildet sei und andererseits in einer persönlichen Beziehung zum Betroffenen steht.
Nicht nur im Ernstfall ist die persönliche Befangenheit des Vereinsvorstands problematisch. Gerade die Einsichtnahme des Führungszeugnisses stellt die Vereine vor Probleme. "Wir bieten den Ehrenamtlichen an, dass wir als Landkreis eine 'Unbedenklichkeitsbescheinigung' ausstellen", sagte Sabine Stark, Pressesprecherin des Landratsamt Sigmaringen. Der Vereinsvorsitzende bekomme dann nur die Bescheinigung zu sehen, nicht das Führungszeugnis selbst.
Egal ob Freiwillige Feuerwehr, Musikverein oder Narrengesellschaft – neben den Sportvereinen sehen sich auch alle anderen Vereine der Region, die in der Jugendarbeit tätig sind, vor der Umsetzung des Gesetzes. Eine Vorreiterrolle bei den Narrenvereinen übernimmt die Narrengesellschaft Oberuhldingen. Bereits im vergangenen Jahr hat diese eine Vereinbarung mit dem Landratsamt unterzeichnet und für alle Beteiligten ein Führungszeugnis beantragt. "Keinesfalls ist sexualisierte Gewalt nur ein Thema in Sportvereinen", meint auch Gerster. Auch wenn es hier seltener als in Sportvereinen zu direktem Körperkontakt zwischen Trainer und Schüler kommt, bieten die Vereine doch schnelle Kontaktmöglichkeiten zu potenziellen Opfern.
Die Studie "Safe Sport" kam zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Vereine keine Führungszeugnisse von ihren ehrenamtlichen oder hauptamtlichen Mitarbeitern fordert und es auch nicht einsieht, dies in Zukunft zu tun. Entgegen der Ergebnisse der Studie zeichnet sich in der Region ein anderes Bild ab. "In den Informationsveranstaltungen reagieren die Vereine sehr verständnisvoll", da sind sich Werner Feiri vom Kreisjugendamt und Sabine Stark einig.
Prävention vor Intervention
- Sexualisierte Gewalt: Die Bezeichnung "sexualisierte Gewalt" wird als Oberbegriff für verschiedene Formen der Machtausübung mit dem Mittel der Sexualität verwendet. Sexualisierte Gewalt kommt in verschiedenen Formen vor: In der engen Definition geht es um Nötigung oder Vergewaltigung, also erzwungene sexuelle Handlungen, die im Strafgesetzbuch (Paragraf 177, Abs. 1) definiert sind. Wird das Problemfeld weiter gefasst, dann zählen auch sexualisierende Übergriffe durch Worte, Bilder, Gesten und sonstige Handlungen mit und ohne direkten Körperkontakt dazu. Hierunter fallen laut einer Informationsbroschüre der Deutschen Sportjugend etwa sexistische Witze, anzügliche Bemerkungen, Formen des Exhibitionismus und Voyeurismus, das Zeigen pornografischer Abbildungen oder unerwünschte Berührungen intimer Körperbereiche.
- Bundeskinderschutzgesetz: Am 1. Januar 2012 trat das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Kraft. Das Bundeskinderschutzgesetz soll den Schutz von Kindern und Jugendlichen regeln und stärken. Für die Arbeit der Vereine, die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe übernehmen, ergeben sich durch Änderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII) Auswirkungen auf die Vereinspraxis. Für Ehrenamtliche ist es notwendig, ein erweitertes Führungszeugnis vorzulegen, wenn sie sich in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen engagieren. Ein Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen ist gesetzlich geregelt. Damit können bereits im Vorfeld Personen ausgeschlossen werden, die wegen kindeswohlgefährdenden Verhaltens verurteilt sind.
- Ansprechpartner im Verdachtsfall: Die Beauftragten der Vereine sollten Kontakt zu externen Stellen aufnehmen. Ansprechpartner sind Mitarbeiter regionaler Beratungsstellen zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt: Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch Morgenrot: 0 75 51/9 44 47 46 (Außenstelle in Überlingen), 0 75 41/3 77 64 00 (Hauptsitz in Friedrichshafen); Beratungsstelle Zartbitter oder auch die Opferhilfe Weißer Ring.