Jürgen Ruf

Nach dem gewaltsamen Tod des dreijährigen Alessio im Schwarzwald soll der zuständige Sachbearbeiter im Jugendamt eine Geldstrafe zahlen. Sie umfasse drei Nettomonatsgehälter, teilte die Staatsanwaltschaft Freiburg mit, ohne Zahlen zu nennen. Diese Höhe sehe ein Strafbefehl vor, den das Amtsgericht Titisee-Neustadt auf Antrag des Staatsanwaltes erlassen habe. Der 45 Jahre alte Mitarbeiter des Kreisjugendamtes Breisgau-Hochschwarzwald habe sich der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen schuldig gemacht. Er habe es versäumt, den Jungen richtig vor Gewalt zu schützen und ihn aus der Familie zu nehmen, die unter Aufsicht des Amtes stand.

Gegen den Strafbefehl könne der Sachbearbeiter in den nächsten zwei Wochen Widerspruch einlegen, dann komme es zum Prozess. Akzeptiere er den Strafbefehl, der 90 Tagessätze umfasse, gelte er als vorbestraft.

Ob er sich gegen den Strafbefehl zur Wehr setze, sei die alleinige Entscheidung des Mitarbeiters, teilte das Landratsamt mit. Die Behörde werde nicht gegen den Strafbefehl vorgehen. Der betreffende Mitarbeiter arbeite seit dem vergangenen Jahr in einer anderen Funktion beim Landratsamt und werde auch nicht an seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren.

Alessio war Mitte Januar vergangenen Jahres in Lenzkirch im Schwarzwald zu Tode geprügelt worden. Sein Stiefvater wurde im Oktober 2015 vom Landgericht Freiburg zu sechs Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Er hatte die Tat gestanden.

Das Jugendamt steht seit dem Tod des Jungen in der Kritik. Es soll Warnungen ignoriert und Alessio unzureichend geschützt haben. Bereits Mitte 2013 hatten Mediziner Hinweise auf Kindesmisshandlung. Doch das Jugendamt ließ den Jungen in der Familie. Dort starb er.

Der zuständige Sachbearbeiter hätte bei korrektem Verhalten den Tod des Jungen verhindern können, bilanzierte der Staatsanwalt. Doch er habe es versäumt, in Gang gesetzte Hilfsmaßnahmen zu kontrollieren, sich vor Ort ein Bild zu machen und den vom als gewalttätig bekannten Stiefvater bedrohten Jungen in Sicherheit zu bringen.

Es wäre laut den Ermittlern spätestens im Dezember 2014 die Pflicht des Behördenmitarbeiters gewesen, beim zuständigen Familiengericht die Inobhutnahme Alessios und dessen kleiner Schwester durch die Behörden zu beantragen. Dieser Antrag hätte Erfolg gehabt. So wäre die tödliche Tat vermieden worden. Doch dies habe der Mann unterlassen. Alessio blieb deshalb alleine beim überforderten Stiefvater.

Bereits vor zwei Monaten hatte ein unabhängiger Gutachter dem Jugendamt Fehler und Versäumnisse attestiert. Der für das Jugendamt zuständige Landkreis hatte angekündigt, die Arbeit der Behörde entsprechend zu verbessern. Ermittlungen gegen Alessios Mutter hatte die Staatsanwaltschaft vor fünf Monaten eingestellt.


Die Chronologie des Falls Alessio

Juni 2013: Es gibt einen ersten Verdacht der Kindesmisshandlung.
Alessio wird deswegen in der Uni-Kinderklinik in Freiburg untersucht.
Bei diesen Untersuchungen bestätigt sich der Verdacht. Das Jugendamt wird eingeschaltet. Es betreut die Familie, die in Lenzkirch im Schwarzwald in einem Bauernhof lebt.

Juni 2014: Alessio wird in der Uni-Kinderklinik erneut untersucht, diesmal bestätigt sich der Verdacht der schweren Kindesmisshandlung.
Die Kinderklinik stellt Strafanzeige. Das Jugendamt sucht das Gespräch mit der Familie.

Oktober 2014: Weil dem im Verdacht stehenden Stiefvater nichts nachgewiesen werden kann, stellt die Staatsanwaltschaft das durch die Anzeige der Uni-Kinderklinik in Gang gebrachte Strafverfahren ein.
Mediziner und Staatsanwaltschaft warnen aber davor, den Jungen in der Familie zu lassen. Das Jugendamt folgt diesem Appell nicht. Alessio und seine kleine Halbschwester bleiben in der Familie.

Dezember 2014: Zur Unterstützung der Familie wird eine Betreuerin engagiert. Es handelt sich um eine Cousine des Stiefvaters. Zudem soll eine Familientherapie begonnen werden, Alessio muss zu Kontrollbesuchen alle 14 Tage zum Kinderarzt. Die beiden Kinder bleiben in der Familie. Als die Mutter zur Kur und später in die Klinik muss, sind sie allein in der Obhut des Stiefvaters.

Januar 2015: Der Stiefvater bringt Alessio in Titisee-Neustadt zu einem niedergelassenen Kinderarzt. Der Junge sei die Treppe hinunter gefallen, sagt er. Alessio stirbt noch in der Arztpraxis an den Folgen schwerster innerer Verletzungen. Sie sind auf mehrere wuchtige Schläge in den Bauch zurückzuführen, wie sich später herausstellt.

Die Polizei wird eingeschaltet, der Stiefvater festgenommen. Das Jugendamt nimmt Alessios Halbschwester aus der Familie, die Mutter wird psychologisch betreut. Der Stiefvater bleibt in Untersuchungshaft, die Tochter bei einer Pflegefamilie.

Februar 2015: Das Regierungspräsidium Freiburg als Rechtsaufsicht prüft den Fall. Das Jugendamt, so das Ergebnis, habe Fehler gemacht.

Rein rechtlich gesehen habe es aber korrekt gehandelt. Der für das Jugendamt zuständige Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald beauftragt Experten, den Fall zu untersuchen und Verbesserungen vorzuschlagen.
Die Staatsanwaltschaft nimmt weitere Ermittlungen auf und prüft, ob es im Jugendamt strafrechtliche Verstöße gab.

Oktober 2015: Das Landgericht Freiburg verurteilt den Stiefvater zu sechs Jahren und zwei Monaten Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung schuldig. Das Urteil wird kurze Zeit später rechtskräftig, weil niemand Revision einlegt.

Dezember 2015: Die Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen gegen Alessios Mutter ein.

Februar 2016: Der vom Landkreis beauftragte Gutachter attestiert dem Jugendamt schwere Versäumnisse. Der Kreis kündigt an, Jugendhilfe und
Kinderschutz sowie die Arbeit der Behörde zu verbessern.

April 2016: Die Staatsanwaltschaft beantragt Strafbefehl gegen den für den Fall Alessio zuständigen Sachbearbeiter im Landratsamt. Das Amtsgericht Titisee-Neustadt folgt dem Staatsanwalt in allen Punkten.
Vorgesehen ist eine Geldstrafe.