Soziale Gerechtigkeit taucht als Schlagwort immer wieder in der politischen Diskussion auf – doch konkret wird die Debatte selten. Dabei betrifft es fast jeden Aspekt unseres Lebens. Ob es um Armut, Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, die Rente, um Steuern, den Mindestlohn, den angespannten Wohnungsmarkt oder die Klimapolitik geht – direkt oder indirekt sind das alles Fragen von Ungleichheit und Gerechtigkeit.

Anlässlich des Internationalen Tags der sozialen Gerechtigkeit haben wir jenen zugehört, die soziale Gerechtigkeit im Alltag vermissen, die zu ihr forschen oder für sie stehen.

Das sind ihre Geschichten.

„Mich macht das traurig. Wir sind auch Menschen mit Blut und Herz“

Emiddio Sansone, 41 Jahre, ehemaliger Rapper aus Singen

Emiddio Sansone sitzt wegen einer Glasknochenkrankheit im Rollstuhl.
Emiddio Sansone sitzt wegen einer Glasknochenkrankheit im Rollstuhl. | Bild: Sansone Emiddio

Emiddio Sansone  sitzt wegen Glasknochenkrankheit, einer genetischen Störung, bei die Knochen leicht brechen können, im Rollstuhl. In der Region und darüber hinaus ist er auch als ehemaliger Rapper (RedDog) bekannt.

Soziale Gerechtigkeit bedeutet Teilhabe. Es ist das Gegenteil von Ausgrenzung. Und trotzdem fühle ich mich im Alltag oft diskriminiert. Seit 2019 bin ich Pflegediensthelfer und Betreuungsassistent. Ich könnte also in Pflegeheimen oder im Krankenhaus arbeiten. Nur: Bei Vorstellungsgesprächen höre ich dann oft Sätze wie „Sie können doch kein Bett schieben. Mit Rollstuhl geht das nicht“ – klar, kann ich das. Für die Prüfung zum Pflegediensthelfer musste ich sogar einen Patienten vom Bett umlagern.

Emiddio Sansone (Archivbild)
Emiddio Sansone (Archivbild) | Bild: Nicola Westphal

Früher habe ich bei den Paralympics als Basketballer gespielt und war in der Schweizer Bundesliga. Mein Hobby wollte ich jetzt zum Beruf machen. Und zwar als Spieleanalyst und Talent Scout beim Fußball. Ich hätte so die Spiele analysiert und das taktisch für die Trainer ausgewertet. Aber egal, wo ich mich beworben habe. egal bei welchem Verein, egal, ob Bundes- oder Kreisliga – immer hieß es nur: Wir brauchen niemanden.

Oder schlimmer noch: „Sie können sich doch auf dem Spielfeld gar nicht bewegen. Und in ein Auto können Sie auch nicht ein- und aussteigen.“ Doch: Das kann ich. Ich sitze zwar im Rollstuhl, aber ich kann auch ein paar Schritte gehen.

Diese fehlende Teilhabe macht mich traurig. Wir sind auch Menschen mit Blut und Herz.

„Ich fühle mich wie eine Verbrecherin. Man braucht Hilfe – und die Gesellschaft schaut nur zu“

Sabine Aslani, 48 Jahre, aus Konstanz

Sabine Aslani
Sabine Aslani | Bild: Hanser, Oliver

Sabine Aslani geriet nach einer psychischen Erkrankung in Obdachlosigkeit.

Soziale Gerechtigkeit ist für mich, wenn man einander den Rücken stärkt. Und wenn man auch psychisch Kranke nicht im Stich lässt. Auf dem Wohnungsmarkt konkurrieren wir mit hunderttausend anderen – und fallen durchs Raster. Für mich ist das so erschreckend: Weil ich fest im Leben stand. Ich habe schon einiges mitgemacht. Ich wurde als Kind misshandelt und als junge Frau vergewaltigt.

Aber ich hatte auch immer die Kraft mich aufzurappeln. Ich habe jahrelang als Küchenhilfe gearbeitet. Als Zimmermädchen. Und als Reinigungskraft im Krankenhaus. Erst 2020 ging nichts mehr. Da war ich arbeitslos, hatte meine Wohnung gekündigt, um in eine andere zu ziehen. Und dann hat mein Körper gestreikt. Ich bin im ZfP (Zentrum für Psychiatrie) gelandet. Mit der Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung.

Psychische Erkrankungen schrecken Vermieter ab

Als ich wieder rauskam, war die neue Wohnung nicht mehr zu haben. Die alte – ohne mein Wissen – neu vermietet. Die Möbel zum Teil sogar fort. Ich bin dann in einer WG, einem betreuten Wohnheim für psychisch Kranke, untergekommen. Und dort rausgeflogen. Weil ich nicht tragbar sei. Das fühlte sich so falsch an, so unmenschlich. Da ist eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen. Die dazu da ist, uns auf die Beine zu helfen. Und da wird man rausgeschmissen. Obwohl noch Zimmer frei sind. Obwohl man nur den Weg zurück in die Gesellschaft finden will.

Eine Wohnung habe ich noch nicht gefunden. Brüche in der Biografie: Das schreckt die meisten Vermieter ab. Und meine gesetzliche Betreuerin? Die hat sich für mich auch nicht stark gemacht. Mir blieb nur noch eine Obdachlosen-Notunterkunft in Konstanz.

Aber: Hier darf ich nur zu bestimmten Zeiten sein. Den Rest des Tages muss ich draußen verbringen. Auch bei der Kälte. Ich fühle mich seitdem wie eine Verbrecherin. Man braucht Hilfe – und die Gesellschaft schaut nur zu, wie es bergab geht.

„Wir machen Sozialarbeit und werden trotzdem fragwürdig entlohnt“

York Töllner, 61 Jahre, aus Villingen-Schwenningen, arbeitet in der Wohnungslosenhilfe

York Töllner im Gespräch mit dem SÜDKURIER in Villingen-Schwenningen.
York Töllner im Gespräch mit dem SÜDKURIER in Villingen-Schwenningen. | Bild: Hans-Juergen Goetz

York Töllner sagt über sein Leben: Es sei von politischem Sein durchdrungen. Jahrelang gehörte er zur Betroffenenbasis der Landesarmutskonferenz und engagierte sich in der Sozialberatung von Verdi. Aktuell arbeitet an fünf Tagen die Woche je sechs Stunden zum Mindestlohn in der Wohnungslosenhilfe.

Soziale Gerechtigkeit hat viele Dimensionen. Für mich heißt das: Du bringst dich in die Gesellschaft ein und du bekommst etwas zurück. Aber genau da liegt die Ungerechtigkeit: Du erhältst nicht immer etwas. Was das Einbringen angeht: Ich arbeite in die Wohnungslosenhilfe. Und hatte gerade wieder Kontakt zu einem ehemaligen Klienten. Einen Mann, den ich kennenlernte, als er obdachlos war. Und den ich da rausgeführt habe.

Eigentlich machen wir Sozialarbeit. Und trotzdem werden wir fragwürdig entlohnt. Ich habe vor Jahrzehnten, als ich noch in Kassel lebte, schon in der Wohnungslosenhilfe gearbeitet. Diese Jobs werden meistens über den Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert. Das war damals schon nicht viel – und an Tarifen, in meinem Fall am Kirchentarif, orientiert. Seit der Einführung des Mindestlohns werden ESF-Jobs meist nur noch auf Mindestlohnniveau bezahlt. Das ist deutlich weniger als früher.

Transferleistungen trotz 30-Stunden Woche

Ich muss deshalb trotz 30 Stunden Arbeitswoche Transferleistungen beantragen, weil das Geld schlicht nicht reicht. Im Alter werde ich wohl von Grundsicherung leben müssen. Und wenn man einmal im Mindestlohn-Bereich gelandet ist, kommt man aus dieser Schleife nicht mehr raus.

Auch muss man sich überall einschränken, und überall steigen die Preise. Für Lebensmittel, Strom, für das Auto oder den öffentlichen Nahverkehr. Dass der Mindestlohn steigen soll, ist zwar eine schöne Idee. Aber nicht weitreichend genug: Eigentlich bräuchte es einen progressiven Mindestlohn, der sich automatisch den steigenden Kosten anpasst.

„Das ist wie ein Roulette-Spiel mit dem Schicksal“

Barbara Spruth, 40 Jahre, Sozialberaterin aus Villingen-Schwenningen

Barbara Spruth
Barbara Spruth | Bild: Hans-Juergen Goetz

Barbara Spruth arbeitet bei der Diakonie im Schwarzwald-Baar-Kreis in der sozialen Lebensberatung. Seit ihrer Jugend leidet die heute 40-Jährige an Multipler Sklerose.

Wir brauchen tatsächlich mehr soziale Gerechtigkeit. Seit dem Jugendalter habe ich Multiple Sklerose, was es unmöglich macht, in eine Versicherung zu kommen. Den Versicherungen – auch im Bereich der Berufsunfähigkeit – bin ich ein zu großes Risiko. Im Umkehrschluss bedeutet das: Ich könnte jederzeit zum Sozialfall werden, weil ich nicht abgesichert bin. Das fühlt sich an wie ein Roulette-Spiel mit dem Schicksal.

Barbara Spruth mit ihrem Hund.
Barbara Spruth mit ihrem Hund. | Bild: Barbara Spruth

In der Lebensberatung der Diakonie habe ich es auch oft mit Menschen zu tun, denen jegliche Absicherung fehlt. Da sind arbeitslose Eltern, die den Eigenanteil für die Zahnspange ihres Kindes nicht aufbringen können. Oder eine Frau, die beim Jobcenter gemeldet ist und für die Arbeit eine Brille braucht –sie aber nicht finanziert bekommt. Auch beim Eigenanteil der Zahnspange unterstützt niemand. Für die Jobcenter gibt es da keine Sicherheit. Weil der Eigenanteil von der Krankenkasse nur erstattet wird, wenn die Behandlung erfolgreich war – und man das im Vorfeld nicht weiß.

Ich wünsche mir da oft eine Vermögensumverteilung, eine Reichensteuer zum Beispiel. Die dritte Ungerechtigkeit: Manchen Menschen, meine Eltern zum Beispiel, haben ihr Leben lang gearbeitet. Haben immer eingezahlt und das ganze Solidarsystem am Laufen gehalten – und dann gibt es dafür nichts. Kein Danke. Keine Belohnung. Das fühlt sich für mich ungerecht an. Man gibt. Und gibt. Und bekommt nichts zurück.

„Im Grunde genommen sind die Sozialgerichte die Guten“

Steffen Roller, 55 Jahre, Direktor des Konstanzer Sozialgerichts

Steffen Roller, seit 2019 Direktor des Konstanzer Sozialgerichts.
Steffen Roller, seit 2019 Direktor des Konstanzer Sozialgerichts. | Bild: Hanser, Oliver

Steffen Roller ist seit 1996 Sozialrichter und seit 2019 Direktor des Konstanzer Sozialgerichts, wo im letzten Jahr durchschnittlich etwa 241 Verfahren pro Monat erledigt wurden.

Für mich heißt soziale Gerechtigkeit, die Menschen vor Gericht ernst zu nehmen. Denn: Für Menschen, die von Grundsicherung leben, sind auch kleine Beträge viel.

Und wenn jemand um eine Anerkennung als Schwerbehinderter kämpft, ist das für ihn eine ganz zentrale Sache. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch bremsen, wenn jemand mit überzogenem Anspruchsdenken auftritt. Denn der Staat kann zwar die Risiken des Lebens abfedern, aber Schicksalsschläge nicht vollständig ausgleichen.

Soziale Gerechtigkeit in Verfahrensform

Unsere Aufgabe als Sozialrichter ist es, jenen Menschen zum Ziel zu verhelfen, die einen Anspruch auf eine Sozialleistung haben, dies aber von der Sozialverwaltung nicht anerkannt worden ist.

Im Grunde genommen sind die Sozialgerichte dabei „die Guten“. Im schlimmsten Fall bestätigen wir eine Entscheidung der Sozialverwaltung. Wir nehmen den Leuten also nichts weg. Aber wenn sie gewinnen, bekommen die sie durch uns etwas.

Das Sozialgericht ist für die „kleinen Leute“ gemacht: Deswegen gibt es keine Gerichtskosten, keinen Anwaltszwang und wenig Formalien. Sozialrichter müssen die Kläger im Verfahren unterstützen, etwa durch Hinweise zur Rechtslage. Das ist soziale Gerechtigkeit in Verfahrensform. Und für mich als Richter ist das eine sehr erfüllende Aufgabe, weil man ganz konkret Recht umsetzen kann.

„Wer von Grundsicherung lebt, fühlt sich oft verunsichert“

Dietmar Victor Dieckmann, 63 Jahre, Rentner aus Konstanz

Dietmar Victor Dieckmann beim SÜDKURIER-Gespräch
Dietmar Victor Dieckmann beim SÜDKURIER-Gespräch | Bild: Hanser, Oliver

Dietmar Dieckmann lebt seit 2010 krankheitsbedingt von einer Erwerbsunfähigkeitsrente, die aktuell 119 Euro betrage, sagt er. Hinzu kommen Beträge aus der Grundsicherung, die Wohnkosten und den Lebensunterhalt abdecken. Vor 2010 bezog Dieckmann längere Zeit Hartz IV, arbeitete aber auch für soziale Einrichtungen, als Ein-Euro-Jobber und in jungen Jahren als Industriekaufmann.

Wir brauchen ein besseres Solidarsystem, das menschliche Grundbedürfnisse abdeckt, ohne andere auszugrenzen. Etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wie stark Menschen diskriminiert werden, wenn sie am Existenzminimum leben, habe ich schon zu spüren bekommen, als ich Hartz IV bezog.

Es darf nichts kaputt gehen

Da wird man schnell sozial ausgegrenzt, weil man kein dickes Auto fährt und nicht ständig unterwegs ist. Auch heute spüre ich das noch. Und ja, manchmal schäme ich mich.

Ich kann kein Vermögen anhäufen – und darf es wegen der Grundsicherung auch nicht. Von daher hoffe ich jeden Tag, dass bei mir zu Hause nichts kaputtgeht. Einen neuen Kühlschrank, die Reparatur eines Küchengeräts – das könnte ich mir nicht leisten. Wer von Grundsicherung lebt, fühlt sich oft verunsichert. Das Gefühl geht nie ganz weg.

Ich glaube, es bliebe sogar, wenn wir ein bedingungsloses Grundeinkommen hätten. Da mache ich mir keine Illusionen. Aber ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre weniger bevormundend als Hartz IV. Statt den Menschen zu „verwalten“, käme einem die nötige Unterstützung direkt zu.

„Unser Schulsystem ist momentan viel zu starr“

Andrea Fleckner, 46 Jahre, aus Mühlhausen-Ehingen

Andrea Fleckner, Mutter dreier autistischer Kinder.
Andrea Fleckner, Mutter dreier autistischer Kinder. | Bild: Hanser, Oliver

Andrea Fleckner ist Mutter dreier autistischer Kinder im Alter von zehn, 13 und 15 Jahren. Sie leitet die Hegau- Selbsthilfegruppe des Konstanzer Vereins Spektralkräfte e.V.

Soziale Gerechtigkeit heißt für mich: Dass jeder Mensch so angenommen wird, wie er ist. In puncto Bildungsgerechtigkeit muss sich da aber noch eigenes bewegen. Unser Schulsystem ist momentan viel zu starr gegenüber der großen Individualität der Kinder.

Ich erlebe jeden Tag, was es bedeutet, Kinder zu betreuen, die ohne Unterstützung nicht in die Schule gehen können. Diese Probleme begleiten uns schon seit vielen Jahren, und es ist keine Verbesserung in Sicht. In der Schule werden meine Kinder von Schulbegleitern unterstützt. Autistischen Kindern bieten sie Sicherheit. Denn die vielen Anforderungen im sozialen und kognitiven Bereich können Autisten unter Dauerstress setzen. Eine gute Begleitung gleicht das aus.

Wenn die Schulbegleiter abspringen

Soweit die Theorie. In der Praxis ist bei Lehrern und Schulbegleitern oft viel zu wenig Wissen über Autismus vorhanden. Oft muss ich die Schulbegleiter coachen und das ist wahnsinnig anstrengend. Ich tue es, weil mir meine Kinder wichtig sind. Weil ich nicht will, dass ihr Verhalten falsch verstanden, ihre Schutzreaktionen persönlich genommen werden. Aber eigentlich ist es nicht mein Job, Lehrer und Schulbegleiter fortzubilden.

Andrea Fleckner
Andrea Fleckner | Bild: Andrea Fleckner

Corona hat mich noch mehr gefordert. Denn die ersten Monate im Homeschooling war überhaupt nicht klar, ob die Begleiter zu uns kommen dürfen. Als es sie es dann durften, waren einige schon nicht mehr da. Man kann ihnen keinen Vorwurf machen: Die Schulbegleiter werden wahnsinnig schlecht bezahlt.

Die Begleitung eines autistischen Menschen ist anspruchsvoll und vielfältig, es braucht viel Einfühlungsvermögen und Fachwissen. Das Begleiten blieb dann an mir als Mutter hängen. Bei drei betreuungsintensiven Kindern, ist das nicht zu schaffen. Und das fühlt sich nicht nach Bildungsgerechtigkeit an.

„Leute, die wenig verdienen, denken, sie wären weniger arm als sie tatsächlich sind“

Marius Busemeyer, 44 Jahre, Ungleichheitsforscher aus Konstanz

Marius R. Busemeyer erforscht soziale Ungleichheit.
Marius R. Busemeyer erforscht soziale Ungleichheit. | Bild: Daniela Biehl

Marius R. Busemeyer ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Konstanz. Seit 2019 ist er Sprecher des Exzellenzclusters „Die Politische Dimension der Ungleichheit“, an dem momentan rund 120 Wissenschaftler forschen.

Am Exzellenzcluster untersuchen wir die politischen Ursachen und Konsequenzen von Ungleichheit. Einer unserer Forschungsschwerpunkte ist zu verstehen, warum Menschen soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit unterschiedlich wahrnehmen.

Im Herbst 2020 haben wir deshalb eine große Meinungsumfrage gestartet, das „Ungleichheitsbarometer“: Das Barometer misst Einstellungen zu und Wahrnehmungen von Ungleichheit in Deutschland in regelmäßigen Abständen von zwei Jahren. Ein interessanter Befund daraus ist, dass sich die Befragten tendenziell selbst der gesellschaftlichen Mitte zuordnen, auch wenn sie überdurchschnittlich arm oder reich sind.

Warum so selten eine Umverteilungspolitik gefordert wird

Das heißt: Leute, die wenig verdienen, denken, sie wären weniger arm, als sie es tatsächlich sind, während Menschen am oberen Einkommensende ihren Reichtum unterschätzen. Ein stereotypisches Beispiel wäre da etwa Friedrich Merz, der sich 2018 als Millionär bekannte, sich aber selbst zur Mittelschicht zählte. Solche verzerrten Wahrnehmungen können dazu führen, dass die politische Nachfrage nach einer engagierten Umverteilungspolitik geringer ist, als wenn die Leute sich „richtig“ einordnen würden.

Auffällig ist auch: Wenn es um Einschätzungen zu sozialer Gerechtigkeit auf gesellschaftlicher Ebene geht, sind die Befragten eher pessimistisch und sehen Defizite, obwohl objektiv betrachtet die Ungleichheit in der Einkommensverteilung in den letzten Jahren in Deutschland nicht dramatisch gestiegen ist. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, die Wahrnehmungen von Ungleichheit differenziert zu betrachten.

„Diejenigen, die das Klima zerstören, leiden am wenigsten darunter“

Klaus Vollmann, 50 Jahre, Klimaaktivist aus Konstanz

Klaus Vollmann im Gespräch mit dem SÜDKURIER.
Klaus Vollmann im Gespräch mit dem SÜDKURIER. | Bild: Hanser, Oliver

Klaus Vollmann ist seit Oktober 2019 bei der Konstanzer Ortsgruppe von FridaysforFuture aktiv.

Soziale Gerechtigkeit heißt für mich Leistungsgerechtigkeit. Wer sich anstrengt und etwas erwirtschaftet, hat auch ein Recht darauf, die Früchte zu ernten. Umgekehrt muss dann aber gelten: Wer Fehler macht oder rücksichtslos handelt, muss dafür geradestehen. In Punkto Klima ist das die größte Ungerechtigkeit. Denn: Diejenigen, die das Klima zerstören, leiden am wenigsten darunter. Und stehen kaum dafür gerade.

Globaler Süden besonders vom Klimawandel betroffen

Die Länder im globalen Süden etwa, die nur wenig Treibhausgase produzieren, spüren die Auswirkungen des Klimawandels besonders stark. Den Menschen vertrocknen die Felder und die Brunnen, obwohl sie gar nicht schuld sind. Und das fühlt sich für mich ungerecht an.

Ich ziehe mich dabei auch nicht aus der Verantwortung. Ich weiß, dass meine CO2-Bilanz im Vergleich deutlich höher ist. Aber ich versuche, daran zu arbeiten. Ich heize nicht mehr viel. Ich dusche kalt. Ich kaufe mir demnächst ein Elektro-Auto, um nicht mehr mit dem Verbrenner zu fahren. Und habe mir schon eine Solaranlage auf das Dach gemacht.

Frustrierend ist nur, dass ich dann immer noch sehr viel verbrauche. Laut dem CO2-Rechner des Umweltbundesamtes sind das bei mir sechs bis acht Tonnen im Jahr. Das ist weniger als der Durchschnitt. Und auch weniger als noch vor drei Jahren, als ich mich für Klimaschutz noch nicht interessiert habe. Aber immer noch viel zu viel.

„Im Krankenhaus erlebt man Ungleichheiten besonders stark“

Eileen Blum, 21 Jahre, macht eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin, aus Konstanz

„Soziale Ungleichheit wird durch den Klimawandel noch verschlimmert“, sagt Eileen Blum.
„Soziale Ungleichheit wird durch den Klimawandel noch verschlimmert“, sagt Eileen Blum. | Bild: Hanser, Oliver

Eileen Blum arbeitet in der Krankenpflege und übernimmt regelmäßig Schichten im Klimacamp. Es steht seit August 2021 in Konstanz und will den Druck auf Politik und Verwaltung erhöhen, damit das städtische Ziel der Klimaneutralität bis 2035 erreicht wird. Um den Versammlungsstatus, den das Camp hat, dabei nicht zu gefährden, muss es immer besetzt sein.

Soziale Gerechtigkeit heißt für mich, Ressourcen so zu verteilen, dass jeder bekommt, was er für ein gutes Leben braucht. Mich ärgert es, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo die einen sehr wenig und die anderen sehr viel haben. Es dann aber kaum nutzen. Stichwort: Wegwerfgesellschaft.

Die Ungleichheit durch die private Krankenversicherung

Ich arbeite in der Pflege. Und im Krankenhaus erlebt man Ungleichheiten besonders stark. Man merkt, aus welchen prekären und oft krank machenden Lebenssituationen, die Patienten zu uns kommen. Und man erlebt auch: Wie sich gerade die wirtschaftlich starken Mitglieder unserer Gesellschaft durch die Private Krankenversicherung einen Vorteil verschaffen, den Arme kaum nutzen können.

Ein Privatpatient hat so etwa einen Anspruch auf ein Einzelzimmer und eine Chefarztvisite. Ein Kassenpatient liegt aber – als Beispiel – in einem Vierbettzimmer mit einer dementen Person, die in der Nacht für Tumult sorgt, weshalb er nicht schlafen kann. Diese Ungleichbehandlung ist schwer zu ertragen, wenn man in die Pflege gegangen ist, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

Soziale Ungleichheit und der Klimawandel

Noch schlimmer ist es im Hinblick auf die Klimakrise, die unmittelbar mit so vielen Schicksalen verknüpft ist. Denn: Jede Tonne CO2, die wir mehr ausstoßen, verursacht irgendwo auf der Welt einen massiven Schaden. Man sieht es nur nicht so direkt. Doch: Wenn es zu einer Nahrungsmittelkrise oder zu einer Umweltkatastrophe kommt, dann können das Menschen mit Rücklagen noch am ehesten verkraften.

Gute Klimapolitik mildert also weitere soziale Ungleichheit.

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