„Ich bin kein Strippenzieher“, sagt Günther Oettinger mit ernster Miene. Um nach ein paar Sekunden das Gesicht zu verziehen. Blanke Ironie, versteht sich. Denn Guenther H. Oettinger, 69, das typische Stakkato-Schwäbisch unverändert breit, das Drahthaar eisgrau, der Gang energisch und der Blick durchdringend wie je, zieht an unzähligen Enden. Die Wege und Netze seiner Seilschaften sind unübersichtlich und reichen weit. Erst recht seit seinem Ausscheiden aus der EU-Kommission im Herbst 2019.
Schon direkt nach dem Abschied aus Brüssel ließ sich Oettinger über ein Dutzend Tätigkeiten genehmigen. Aufsichtsräte, Beratungstätigkeiten, Präsidentenämter quer durch die Republik und Europa. Einiges vergütet, einiges im Ehrenamt. Manches davon lässt aufhorchen – etwa seine Aufsichtsratstätigkeit für den badischen Tunnelbohrmaschinen-Weltkonzern Herrenknecht, dessen Maschinen sich durch das Erdreich tief unter der Landeshauptstadt für das Milliardenprojekt Stuttgart 21 gefressen haben.
Es war Oettinger, der 2009 als Ministerpräsident die Finanzierungsvereinbarung für das Projekt unterschrieben hatte. Neulich war er auf der Bahnhofsbaustelle. „Gigantisch“, sagt er, „fantastische Architektur. Das wird für Stuttgart, was die Elbphilharmonie für Hamburg ist.“ Zur Kostenexplosion sagt er nichts. Denn zu den derzeit dazu laufenden Gerichtsverfahren muss er wohl als Zeuge aussagen.
Oettingers Politik- und Wirtschaftsberatungsfirma „Oettinger Consulting“, die er seit 2022 mit seiner Lebensgefährtin Friederike Beyer führt, sitzt in Hamburg; 60 Prozent seiner Zeit investiere er dafür, sagt er. Daneben fungiert Oettinger als Präsident der privaten hessischen EBS Universität für Wirtschaft und Recht, er ist Präsident des proeuropäischen Vereins United Europe, in dessen Vorstand auch CDU-Chef Friedrich Merz sitzt. Oettinger ist Autor für das Handelsblatt, Vortragsredner, und hilft europaweit Unternehmen, mit der Politik Projekte aufzugleisen. Wo man ihn am häufigsten antrifft? „Unterwegs“, sagt Oettinger.
Aber auch in Stuttgart hat ihn immer wieder jemand aus der Wirtschafts- und Politikblase gerade erst gesehen oder getroffen. „Ich fasse die Termine tageweise zusammen“, sagt Oettinger zum Eindruck, er sei omnipräsent. Der umtriebige CDU-Politiker galt schon früher als feierfest und nimmermüde, in der Stadt schaut er gern bei diversen alten Stammtischen vorbei, taucht beim Porsche-Tennisturnier auf, übernachtet zuweilen in der Studentenbude seines Sohnes in Tübingen auf dem Sofa. Auch mit Boris Palmer ist Oettinger befreundet. „Ich mag ihn. Auch in diesen Zeiten“, sagt er.
Essen mit Kretschmann
Mit Nach-Nachfolger Winfried Kretschmann tauscht sich der CDU-Politiker gelegentlich beim Essen aus. Man schätzt sich. Als Ministerpräsident liebäugelte Oettinger schon 2006 im Südwesten mit einer schwarz-grünen Koalition, damals für viele in eigenen Reihen undenkbar. Kretschmann wäre damals sein Vize geworden, man war sich fast einig – bis Stefan Mappus, damals CDU-Fraktionschef, dazwischen grätschte. Bald darauf war Oettinger Kommissar in Brüssel, Mappus als Kurzzeit-Ministerpräsident mitsamt der CDU-Mehrheit im Land Geschichte. Und Kretschmann, der Grüne, war Ministerpräsident.
Während des Treffens im Stuttgarter Landtags-Restaurant – am Vortag des Empfangs zu Kretschmanns 75. Geburtstag, den Oettinger selbstredend besucht – wird der 69-Jährige alle paar Minuten gegrüßt und angesprochen. Er freut sich. „Die Leute sind immer freundlich zu mir, das ist anders als früher, da gab es Zustimmung, aber auch Ablehnung“, stellt er fest.
Schließlich schaut auch noch der Pächter des Restaurants vorbei, dem Oettinger verspricht, bald in dessen neuem Betrieb vorbeizuschauen – dem Stuttgarter Ratskeller. Der soll dann wieder Ratskeller heißen und nicht mehr „The Rätskeller“, wie ihn die Kurzzeit-Vorpächterin in verhunzter Anlehnung an den Werbeslogan des Landes „The Länd“ taufte. „Schlechte Idee“, sagt Oettinger. Überhaupt, Baden-Württemberg, Stuttgart. Da hält der 69-Jährige nicht hinter dem Berg.
Oettingers Kritik an Stuttgart
„Verschlafen, träge und satt“ sei die Landeshauptstadt, verpasse die Zukunft, bescheinigte er erst im April bei einer Talkrunde in einem Stuttgarter Zeitungskiosk seinem Parteifreund und Stuttgarter OB Frank Nopper. Oettinger fürchtet um die Innovationskraft und den Wohlstand von Stadt und Region Stuttgart. Er vermisse Ideen, Dynamik und Entwicklung, die Stuttgart endlich in eine Liga mit Hamburg oder München bringen sollen, sagt Oettinger. Schließlich trage die Landeshauptstadt auch ganz Baden-Württemberg. „Ich sehe überall Stillstand. Unser Wohlstand lässt sich so nicht sichern.“
Der Stadt, sagt Oettinger, drohe die Zweitklassigkeit. Ganz wie dem VfB Stuttgart, seinem Herzensclub. Auch an dessen Führung lässt das langjährige Vereinsmitglied Oettinger kaum ein gutes Haar. Ob man ihn denn nicht schon gefragt hat, den Laden zu übernehmen? „Doch, es wurden Fühler ausgestreckt“, sagt Oettinger. Aber das passt derzeit nicht. Oettinger spielt in seiner eigenen Liga.