Vielleicht haben Sie auch einen der grauen Briefe von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) bekommen. Sollten Sie ihn nicht ungeöffnet ins Altpapier geworfen haben, finden Sie darin eine Broschüre, auf der Ihnen ein roter Briefumschlag entgegenlächelt. Darauf steht: „Die Sozialwahl. Wählen und mitbestimmen. Deine Stimme. Deine Wahl.“ Klingt nett, aber: Worum geht es da überhaupt? „Gewählt wird die Selbstverwaltung, in der die Versicherten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen“, heißt es.

Wer steht denn da zur Wahl, wofür tritt er oder sie ein? Der rote Briefumschlag bleibt die Antwort schuldig.

Bund der Steuerzahler: „Scheinwahl“ und Steuergeldverschwendung

Wenn Sie das verwirrt, sind Sie nicht allein: Dass die Wahl intransparent sei, das ist nur ein Vorwurf, der den alle sechs Jahre erklingenden Ruf zu den Sozialwahlen treu begleitet. Der Bund der Steuerzahler bezeichnete die Sozialwahl schon als „Scheinwahl“, die Ärztezeitung schimpft regelmäßig, die Listen seien Resultat von „Klüngelei“ der Gewerkschaften und Kassen.

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Es geht um Ihr Geld: Über 160 Milliarden

Das sind harte Vorwürfe: Immerhin geht es bei der Wahl um die Mitbestimmung der Beitragszahler über eine Menge Geld: Die Deutsche Rentenversicherung Bund verwaltet über 160 Milliarden Euro, das ist nach dem Bundesetat der zweitgrößte Haushalt des Landes.

Was ist die Sozialwahl?

Viele Bundesbürger zahlen ein in die Sozialkassen, also Rentenversicherung, Krankenkasse, auch Unfall- und Sozialkasse. Was mit dem Geld passiert, gibt der Staat grob vor, etwa, indem er die Höhe der Rente festsetzt oder sagt, welche Leistungen Krankenkassen bringen müssen.

Doch die Detailarbeit überlässt der Staat den Kassen in Selbstverwaltung. Und die Versicherten reden mit: Sie haben eigene Gremien innerhalb der Kassen, meist zur Hälfte mit Versicherten, zur Hälfte mit Arbeitgebern besetzt. Die entscheiden zum Beispiel über Haushalt und Vorstand. Alles ehrenamtlich.

Olaf Scholz wirbt für Wahl

51 Millionen Versicherte dürfen 2023 bis 31. Mai per Post oder online ihre Vertreter für diese Gremien wählen. Die mit Abstand größte Wahl dabei ist die zur Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) mit 31 Millionen Wahlberechtigten. Das sind die mit den grauen Briefen und dem lächelnden Briefkasten. Die Vertreterversammlung dort hat ein wachsames Auge auf die über 160 Milliarden Euro.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wirbt für die Sozialwahl 2023: „Mit Ihrer Stimme nehmen Sie Einfluss auf Rente und Gesundheit“, wird er auf der Info-Homepage zitiert.

Hört sich nach einer Sache an, die man sich genauer ansehen sollte. Wir haben das für Sie getan: Wir erklären Ihnen, worum es eigentlich geht, was an den Vorwürfen dran ist, und fragen Experten, ob es sich lohnt, zu wählen.

Warum ist die Sozialwahl wichtig?

Wer bei der Sozialwahl gewinnt, hat Einfluss. Bei der Rentenversicherung Bund etwa bestimmen die Wahlsieger Haushalt, Vorstand und mischen inhaltlich mit. Sie sitzen in den Widerspruchsausschüssen, an die sich Versicherte wenden können, die mit den Entscheidungen der Kassen nicht einverstanden sind. Sie mischen auch inhaltlich mit.

„Wir hatten in unseren Reha-Kliniken vor allen anderen eine Long-Covid-Reha, für die wir gekämpft haben. Die Kassen zogen nur nach, weil sie dem Druck der Selbstverwaltung nicht mehr standhielten“, nennt Rüdiger Herrmann ein Beispiel. Der Baden-Württemberger ist momentan Vorsitzender der Vertreterversammlung des DRV Bund.

Rüdiger Herrmann ist seit 20 Jahren ehrenamtlich in der DRV Bund aktiv, momentan ist er Vorsitzender der Vertreterversammlung.
Rüdiger Herrmann ist seit 20 Jahren ehrenamtlich in der DRV Bund aktiv, momentan ist er Vorsitzender der Vertreterversammlung. | Bild: DRV Bund /Wiedl

Er nennt als wichtige Aufgabe der Versichertenversammlung die Wahl der über 2500 ehrenamtlichen Versichertenberaterinnen, die in ganz Deutschland Menschen kostenlos bei Rentenanträgen helfen. „Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie nicht klarkommen. Die Beratungsstellen des Bundes sind hoffnungslos überfordert“, sagt eine davon, Katrin Schöb.

Vorwurf: Ist die Sozialwahl Verschwendung von Steuergeld?

Der Bund der Steuerzahler begutachtet die Sozialwahl schon lange mit Argwohn. Weil die Wahl 2017 mehr als 60 Millionen Euro kostet (allein das Porto für die Wahlunterlagen und die Informationsbriefe), hat sie es 2017/2018 ins Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler geschafft. Darin heißt es: „Die Sozialwahlen sind nichts anderes als Scheinwahlen!“ Sie seien völlig intransparent.

Ein Hauptpunkt der Kritik: Die Wählerinnen können keine Einzelpersonen wählen. Nur Listenblöcke – und die sind bereits im Vorhinein festgelegt, ohne Wahlkampf. Ein Wettbewerb um die besten Vertreter findet also nicht statt. Kein Wunder, dass nur 30 Prozent 2017 gewählt hätten, findet der Bund der Steuerzahler. Viele Krankenkassen boten erst gar keine Wahl an, weil nur so viele Kandidaten wie Plätze bereitstanden. Das sind die umstrittenen „Friedenswahlen“.

Wer hat die Kandidaten auf die Listen gesetzt – und warum?

Die Steuerzahlerorganisation setzte sich mit der Bundeswahlbeauftragten, Rita Pawelski, zusammen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Eine Reform wurde eingeleitet, die vorsah: Online-Wahlen, Frauenquote, mehr Öffentlichkeitsarbeit, Abschaffung der Listenverbindungen – außerdem freie Tage und Bildungsurlaub für die Versichertenvertreter, um das Ehrenamt attraktiver zu machen.

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Doch ein Blick auf die Website der Deutschen Rentenversicherung Bund bringt Ernüchterung: Die Listen gibt es nach wie vor. Es bleibt unklar, wer die Kandidaten auf diese Listen gesetzt hat und warum. Immerhin, Online-Wahlen soll es geben – aber nicht bei der DRV Bund, sondern nur bei einigen Krankenkassen. Reiner Holznagel, der Präsident des Steuerzahlerbundes, sagt auf SÜDKURIER-Anfrage: „Inwieweit das die Kosten der teuren Wahlen tatsächlich und wie gehofft reduziert und zugleich die Wahlbeteiligung verbessert, muss sich nun zeigen.“

DRV Bund-Vorstand: Bekommen keine Wahlkampfhilfe

Der Baden-Württemberger Rüdiger Herrmann, der selbst für die „Unabhängigen“ kandidiert, erklärt auf die Kritik hin: „Die Listenblöcke sind einfacher. Es gibt keinen Personenwahlkampf, weil wir keine Wahlkampfhilfe von der Bundesregierung erhalten. Wir sind momentan in harten Verhandlungen mit den öffentlich-rechtlichen Sendern, dass in den Wochen vor dem 31. Mai überhaupt ein neutraler Werbespot über die Sozialwahl gebracht werden darf.“

Wer sind denn die Kandidaten überhaupt?

Bei der Deutschen Rentenversicherung Bund stehen 13 Listen zur Wahl. Namen erfährt man nur von einigen Kandidierenden. Neben Alter und Wohnort sind häufig nur die Positionen im DRV Bund angegeben. Wer mehr wissen will, wird nicht immer fündig.

Wolfgang Schroeder ist Politikprofessor an der Uni Kassel, er hat viel zu Sozialwahlen geforscht. Sein Fokus: die Selbstverwaltung in Krankenkassen. Er sagt: „Das Grundproblem ist bei den Krankenkassen und der Deutschen Rentenversicherung dasselbe: Man hat eine enorme Vielfalt von Gruppen, bei denen nicht klar ist, was sie machen, woher sie kommen, ob sie legitimiert sind – und wie deren Position ist.“ Bei den Krankenkassen würden zudem häufig Exmitarbeiter oder Mitarbeiter über sogenannte Tarnlisten in wichtige Funktionen geschickt.

Krankenkassenhintergrund problematisch?

Bei den Krankenkassen-Listen sind viele der zur Wahl stehenden Menschen nicht nur dort versichert, sondern auch Mitarbeiter, einige in Führungspositionen. Für die Liste der „Barmer – Interessenvertretung der Versicherten“ haben sich neben Birgit Fischer, der ehemaligen Gesundheitsministerin von Nordrhein-Westfalen, auch der Hauptgeschäftsführer der Barmer, Dirk Fischbach, aufstellen lassen. Bei der Liste „BfA DRV Gemeinschaft – Die Unabhängigen“ ist Spitzenkandidat Hans-Werner Veen Rentner. Davor war er Landesgeschäftsführer der Krankenkasse DAK.

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Politikprofessor Wolfgang Schroeder sieht die Besetzung kritisch. Aber: „Wenn zum Beispiel eine ehemalige Gesundheitsministerin da drin sitzt, das kann auch gut sein. Man braucht schon Leute, die Erfahrung haben, die Ahnung haben, weil sie sonst über den Tisch gezogen werden. Aber: Es sollten nicht nur Gesundheitsministerinnen sein.“

„Ja, das ist schon sehr kopflastig“

„Ja, das ist schon sehr kopflastig, das stimmt“, sagt auch Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der DRV Bund. Er ist ebenfalls bei den „Unabhängigen“. Vor seiner Rente war er wie Veen bei der DAK, leitete dort den Vertrieb für ganz Baden-Württemberg.

Er erklärt: „Das hat sich so ergeben, weil bei der eigenen Kasse konnte ich mich nie in die Selbstverwaltung wählen lassen, das ist ja ausgeschlossen. Mir macht es Freude, mich für andere einzusetzen. Wenn man selbst aus der Selbstverwaltung kommt, zum Beispiel bei einer Krankenkasse arbeitet, ist man das ganze Berufsleben mit dem System konfrontiert. Man weiß, was man bewirken kann, so fällt es einem leicht.“ Ihm hatte sein damaliger Chef bei der DAK den Weg in die Vertreterversammlung des DRV Bund geebnet.

Soll man wählen?

Der Appell von Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder: Wählen sollten alle unbedingt. „Klar kann man sagen: ‚Das ist alles defizitär, und nicht das, wie man sich hochmotivierte Demokratie vorstellt. Aber andererseits: Was, wenn das alles wegfallen würde? So gibt es wenigstens diese wenigen Einflussmöglichkeiten. Die sollten wir nutzen.“