Der Wahlsieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan schlägt auch im Südwesten Wogen. Bei einem Autokorso von Erdogan-Anhängern in Stuttgart kam es zu Gewalttaten, die aber zum Teil nicht von den Feiernden ausgegangen sein sollen. Sowohl der Staatsschutz als auch das Landeskriminalamt ermitteln wegen eines versuchten Tötungsdelikts.

„Wir waren schon vorbereitet. Uns war klar, dass gefeiert wird, wenn die Wahl vorbei ist und wir haben gehofft, dass es ruhig bleibt“, sagt Jens Lauer vom Stuttgarter Polizeipräsidium. „Aber dass Feiernde so gezielt angegangen werden mit Steinen und Flaschen, das hätten wir nicht in diesem Ausmaß erwartet.“

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Bei dem Autokorso nach Bekanntgabe es Wahlergebnisses war es am Sonntagabend in der Stuttgarter Innenstadt zu einer Messerstecherei mit zwei Schwerverletzten und einem Leichtverletzten gekommen. Und Teilnehmer des Autokorsos, mit dem Erdogan-Anhänger lautstark den Wahlsieg des türkischen Präsidenten feierten, waren angegriffen worden. Insgesamt hat die Polizei über ein Dutzend Strafanzeigen aufgenommen, darunter sechs Körperverletzungen und mehrere Sachbeschädigungen.

In Feuerbach wurde friedlich gefeiert

In Stuttgart, wo die Gruppe der Bürger mit türkischer Staatsangehörigkeit die größte Ausländergruppe in der Stadtbevölkerung umfasst – vor Kroaten, Italienern und Griechen – ist die Polizei lautstarke Bekundungen im öffentlichen Raum aus diesen Reihen gewöhnt – nach Fußballspielen, aber auch zu politischen Ereignissen. „Es gibt immer mal wieder Auseinandersetzungen, weil einer die falsche Fahne dabei hat oder die einen feiern, und die anderen nichts zu feiern haben“, sagt Polizeisprecher Lauer.

Eine Politisierung der türkischen Stuttgarter Bürger, gar eine Radikalisierung ist der Polizei jedenfalls bislang nicht aufgefallen. Im Stuttgart Stadtteil Feuerbach, einem traditionellen Arbeiterviertel mit einem hohen Anteil türkischer und türkischstämmiger Bürger, hätten etwa über 1000 Menschen friedlich auf der Straße gefeiert, sagt Lauer, Vorfälle registrierte die Polizei dort nicht.

Reaktionen auf Özdemirs Kritik an Deutschtürken

Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft
Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft | Bild: Britta Pedersen, dpa

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) hatte zuvor den Jubel der Erdogan-Anhänger in deutschen Städten scharf kritisiert. Das sende ein verstörendes Signal an die deutsche Gesellschaft, so der türkeistämmige Minister: „Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen.“

Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, reagiert darauf kritisch: „Ich bin nicht glücklich über die Kontroverse mit Cem Özdemir, denn ich teile vieles von dem, was er sagt. Ich teile die Einschätzung, dass es ein Problem ist, dass so viele Deutschtürken Erdogan gewählt haben. Aber die Lösung ist nicht Stigmatisierung der Wähler. Wir haben den Leuten nicht vorzuschreiben, wen sie wählen sollen.“

Nicht das Zünglein an der Waage

Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland
Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland | Bild: Christoph Schmidt, dpa

Die deutsche Politik habe viel versäumt bei der politischen Einbindung der Deutschtürken. „Die Menschen sind seit 60 Jahren hier und haben nicht mal auf kommunaler Ebene das Wahlrecht“, sagt Sofuoglu dem SÜDKURIER. Für die Gewalt beim Feiern hat der Fellbacher aber kein Verständnis. „Dass Andersdenkende angegriffen werden und Geschäfte zerstört, kann ich nicht akzeptieren. Ich hoffe, dass das Konsequenzen haben wird.“

Die Deutschtürken waren aus seiner Sicht nicht das Zünglein an der Waage: „Die Stimmen, die Erdogan aus Deutschland bekommen hat, waren nicht entscheidend. Bekommen hat er etwa eine halbe Million Stimmen aus Deutschland, aber sein Vorsprung lag bei 2,5 Millionen.“

„Es geht um Glaube, Heimat, Nationalstolz“

Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz, Doppelstaatler mit deutscher und türkischer Staatsangehörigkeit, der sich im Vorfeld der Wahlen klar gegen Erdogan positioniert hatte, sieht die Gründe für die große Unterstützung Erdogans in Baden-Württemberg unterdessen auch darin, dass der türkische Präsident die Menschen emotional anspreche.

„Wirtschaftliche Gründe können es in Baden-Württemberg kaum sein. Erdogan hat es geschafft, Identitätspolitik als die entscheidende Währung zu definieren. Es geht um Glaube, Heimat, Nationalstolz“, sagte Bayaz dem SÜDKURIER. „Er schafft so für viele Menschen ein Wir-Gefühl. Damit konnte er auch gut von der von der desaströsen wirtschaftlichen Lage ablenken, in der sich die Türkei befindet.“

Danyal Bayaz (Bündnis 90/Die Grünen), Finanzminister von Baden-Württemberg
Danyal Bayaz (Bündnis 90/Die Grünen), Finanzminister von Baden-Württemberg | Bild: Bernd Weißbrod, dpa

Die Politik in Deutschland müsse wieder stärker den Dialog zu diesen Menschen suchen. „Aber auch klar artikulieren, was wir erwarten: dass unser Grundgesetz die Basis unseres Zusammenlebens ist, dass unsere deutsche Erinnerungskultur niemals verhandelbar ist. Und wir sollten stärker differenzieren: Die Türkei ist nicht Erdogan, jedenfalls nicht nur“, sagte Bayaz. „50 Prozent der Menschen lehnen ihn ab. Die Opposition hat großen Respekt verdient und wir müssen signalisieren: Wir sehen, dass es auch eine andere Haltung gibt.“

Was folgt für das Verhältnis zur Türkei?

Derya Türk-Nachbaur (SPD), Bundestagsabgeordnete für Schwarzwald-Baar-Kreis und das Obere Kinzigtal
Derya Türk-Nachbaur (SPD), Bundestagsabgeordnete für Schwarzwald-Baar-Kreis und das Obere Kinzigtal | Bild: Hanser, Oliver

Derya Türk-Nachbaur war bei der Stichwahl wieder als Wahlbeobachterin in der Türkei. Die SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis erlebte eine Wahl weitgehend ohne Auffälligkeiten, teilt sie mit. Aufgrund der massiven Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei, hätte im Vorfeld jedoch kein fairer Wahlkampf stattfinden können.

Das jetzige Ergebnis sei besonders für jüngere Menschen in der Türkei ein schwerer Schlag, glaubt sie. Viele seien bereits vor der Wahl auf gepackten Koffern gesessen und hätten nun wenig Grund in der Türkei zu bleiben. Die SPD-Abgeordnete hält es für notwendig, die bisherige Türkeipolitik zu überdenken. Auch der Flüchtlingsdeal mit der Türkei dürfe dem nicht im Wege stehen.