Antonia Berger

Ein angeregtes Murmeln erfüllt den Raum. In der Mitte steht ein Teller mit Keksen und an den Tischen sitzen grüppchenweise Senioren. Mit einer Lupe in der Hand beugen sie sich hoch konzentriert über alte Schriftstücke. Es ist ein besonderer Ort.

„In Deutschland gab es Mitte 2022 genau elf...?“, fragte Kai Pflaume neulich in seiner Quizshow „Wer weiß denn sowas?“. Die korrekte Antwort lautet „Sütterlinstuben, die Dokumente in alter Handschrift übersetzen“. Und in ganz Süddeutschland gibt es nur eine einzige solche Schreibstube – und die befindet sich in Konstanz.

Vor zwölf Jahren wurde sie von der Arbeiterwohlfahrt in der ehemaligen Chérisy-Kaserne gegründet. Heute engagieren sich 25 Personen in der Schreibstube, die von Christine Hähl und Roswitha Schweichel organisiert wird. In diesem Jahr nahmen sie bereits über 300 Aufträge wahr.

Hier die Auflösung des Hasensuppen-Rezepts. Apollonia Holstein (geb. Sproll) schrieb das Kochbuch im Jahr 1928 in Sütterlin-Schrift, ...
Hier die Auflösung des Hasensuppen-Rezepts. Apollonia Holstein (geb. Sproll) schrieb das Kochbuch im Jahr 1928 in Sütterlin-Schrift, während sie im Hotel Löwen in Langenargen das Kochen lernte. | Bild: Antonia Berger

Briefe geben kuriose Geschichten preis

Ute Drozd ist seit Eröffnung der Sütterlin-Schreibstube dabei. Von dem Projekt las sie zum ersten Mal in der Zeitung. Seitdem transkribierte sie unzählige Dokumente. Eines ist ihr ganz besonders im Gedächtnis geblieben. „Das war der Brief einer jungen Frau, die 1912 nach New York gefahren ist und unterwegs die verunglückte Titanic getroffen hat“, erinnert sie sich. „Die Leute auf ihrem Schiff haben geschaut ob sie helfen können, aber es war leider schon zu spät.“ In dem Brief habe sie genau geschildert, was alles im Wasser schwamm.

Die Sütterlin-Schreibstube Konstanz transkribiert Dokumente in alten Schriften wie Kurrent oder Sütterlin.
Die Sütterlin-Schreibstube Konstanz transkribiert Dokumente in alten Schriften wie Kurrent oder Sütterlin. | Bild: Antonia Berger

Die Rentnerin lernte die Sütterlinschrift noch in der Schule. „Ich wundere mich, dass die jungen Leute das so gar nicht mehr lesen können“, meint sie. „Aber ich kanns doch auch nicht lesen“, lacht ihre Nebensitzerin Monika Rudolf.

Sie besuchte die Schule in den 60er-Jahren, als die Schrift schon lange nicht mehr gelehrt wurde. Trotzdem leistet sie wichtige Arbeit in der Schreibstube. Denn sie beherrscht das Schreiben am Computer. So ergänzen sich die beiden Frauen in ihrer Arbeit – Die eine übersetzt, die andere tippt.

Rätsel lösen stärkt Kopf und Seele

Nach einer längeren Corona-Pause treffen sich die Mitglieder jetzt wieder jeden zweiten Freitag in der Schreibstube, um Dokumente in altertümlichen Schriften zu übersetzen. Sie arbeiten ehrenamtlich. Warum? „Es bereitet mir großen Spaß“, erklärt Historikerin Susanne Wegener strahlend. „Und es hilft uns alten Menschen, das Kurzzeitgedächtnis fit zu halten. Buchstaben erkennen, Wörter vergleichen, das Ganze im Internet kontrollieren – Ein enormes Training fürs Gehirn.“ Wegener kam 1941 zur Schule und gehört damit zum letzten Jahrgang, der die Sütterlinschrift lernte, bevor diese von den Nationalsozialisten verboten wurde.

Historikerin Susanne Wegener betrachtet ein altes Kochbuch.
Historikerin Susanne Wegener betrachtet ein altes Kochbuch. | Bild: Antonia Berger

Die Schreibstube erhält die unterschiedlichsten Dokumente aus der ganzen Welt. Von Urkunden jeglicher Art wie Wehrpässen oder Feuerwehrprotokollen bis hin zu Familienchroniken, Rezepten und Briefen ist alles dabei. „Bei unseren Treffen ist das Ganze nicht zu schaffen, deshalb arbeite ich auch zu Hause ständig an Übersetzungen“, erklärt Wegener. „Hierher komme ich nur für die Gesellschaft und zum Schwätzen.“

Wobei die Arbeit im Team durchaus nützlich sein kann. Auch sie könne nicht alles ohne Hilfe entziffern. „Es ist eine Knobelei“, lacht sie. „Oft ist das Papier uralt und die Schrift furchtbar verwaschen.“ Die meisten Leute seien sehr dankbar für die Arbeit der Schreibstube. Viele hinterließen auch eine großzügige Spende für die Arbeiterwohlfahrt.

Google ist der beste Freund

Wolf von Cube engagiert sich seit etwa fünf Jahren in der Schreibstube. Seine Spezialität sind Kriegstagebücher aus den 40er-Jahren. „Zuletzt habe ich eines mit 70 Seiten transkribiert“, erzählt er. Dafür sei eine Menge Recherche notwendig, da zum Beispiel Orte im Laufe der Zeit ihren Namen wechselten. „Es ist wahnsinnig praktisch, dass es jetzt Google gibt!“, meint er begeistert.

Hella Dahlmann und Helga Bucher pflichten ihm bei. Zu dritt arbeiten sie an einem Taufzeugnis aus dem Jahr 1813. Es stammte aus Kamenz im ehemaligen Schlesien und wurde mit einem krakeligen „Schultheiß“ unterzeichnet. „Namen sind immer schwer“, meint von Cube.

Von links: Helga Bucher, Hella Dahlmann und Wolf Cube transkribieren ein Taufzeugnis aus dem Jahr 1813.
Von links: Helga Bucher, Hella Dahlmann und Wolf Cube transkribieren ein Taufzeugnis aus dem Jahr 1813. | Bild: Antonia Berger

Viele Schriftstücke stammen aus einer dunklen Zeit

Das Team besteht zum Großteil aus Senioren. „Wir freuen uns immer, wenn jemand Lust hat mitzumachen, aber die meisten Jüngeren beherrschen die Schrift natürlich nicht mehr“, sagt Christine Hähl. Sie habe das Gefühl, durch die Verwendung von Computern gehe ein großer Teil der Schreibkultur verloren. Oftmals fänden Leute Dokumente verstorbener Angehöriger in deren Nachlass oder auch dem Dachboden. „Das geht mir sehr nahe“, sagt Christine Hähl. „Besonders die Feldpost, davon übersetzen wir viel.“

Mit Feldpost sind die Briefe gemeint, die aus dem Krieg nach Hause geschickt wurden. „Wir lesen viel von Heimweh“, erzählt Hähl. „Oft sind es junge Männer, die gar nicht in den Krieg ziehen wollten und sich Sorgen um Frau und Kinder machen. Ich frage mich oft, wie es nur zu solchen schrecklichen Kriegen kommen kann.“

Bewegend seien auch Krankenakten aus den Euthanasie-Programmen im Dritten Reich. Viele Angehörige der Ermordeten erhielten die handgeschriebenen Dokumente erst jetzt aus Archiven. „Nachdem die Fälle oft jahrzehntelang totgeschwiegen wurden, möchten einige Familien nun die Wahrheit erfahren“, erklärt Hähl.

Roselotte Perlau und Roswitha Schweichel untersuchen eine Krankenakte aus den Jahren 1938 bis 1941. Es geht um das Schicksal einer Frau, die an Diphterie litt und in einer psychischen Klinik isoliert wurde. „Das war damals so schlimm, dass sie das Haus nicht verlassen durfte“, sagt Schweichel.

Von links: Roselotte Perlau und Roswitha Schweichel transkribieren den Bericht aus einer Krankenakte.
Von links: Roselotte Perlau und Roswitha Schweichel transkribieren den Bericht aus einer Krankenakte. | Bild: Antonia Berger

Es sind düstere Zeugnisse der Vergangenheit, denen sich die Ehrenamtlichen widmen. Aber auch Schönes ist dabei – Poesiealben, Reiseberichte und Liebesbriefe. Die Schriftsteller sind unbekannt oder längst vergessen. Doch in der Schreibstube werden ihre Werke wieder zum Leben erweckt.

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