Das Interesse war groß. Als die Krankenkasse DAK-Gesundheit im April eine von ihr in Auftrag gegebene Untersuchung zur Geschichte der Kinderkuren in der Nachkriegszeit vorstellte, war nicht nur ein Fernsehteam der ARD dabei, sondern auch Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). Dieser hat immer betont, wie wichtig der kritische Blick auf die Geschichte der Kinderkuren in der Bundesrepublik sei.

So lobte Lucha die Untersuchung des von der DAK beauftragten Bielefelder Historikers Hans-Walter Schmuhl als ein „wichtiges Signal“, dem „weitere Beispiele folgen“ sollten. Es sei notwendig, „dass wir den Menschen zuhören, die Schlimmes erlebt haben“. Lucha kann für sich in Anspruch nehmen, dazu ein frühes Startsignal gegeben zu haben, als er vor drei Jahren die Kinderkur-Aufarbeitung anstieß. In Baden-Württemberg gab es mehr als 800 Kinderkurheime, das Land war das Zentrum der lukrativen Verschickungsindustrie.

DRK-Kindersolbad als Hauptschauplatz

Der Druck zur systematischen Aufklärung der subtilen und offenen Gewaltkulturen in den Heimen ist groß. Und er wächst weiter: Inzwischen liegen klare Belege dafür vor, dass Ärzte Kinder als Versuchskaninchen für Medikamententests missbraucht haben. Hauptschauplatz im Land: Das DRK-Kindersolbad in Bad Dürrheim auf der Baar. Frühere Kurkinder, die dort an Versuchen teilnehmen mussten, stellen heute Fragen und warten auf wissenschaftlich fundierte Antworten.

Inzwischen gibt es an Luchas Pionier-Rolle Zweifel. Aus dem Kreis der Betroffenen ist Ungeduld zu hören. Man fühlt sich hingehalten und fordert vom Land eine Untersuchung, die sich an das Format der DAK-Studie anlehnt. Eine erhellende Antwort aus dem Sozialministerium steht aus. Auf Anfrage des SÜDKURIER heißt es, das Thema sei „weiterhin auf dem Schirm“. Für eine Studie müsse der Landtag „erst die Mittel zur Verfügung stellen“.

Manfred Lucha (Bündnis90/Die Grünen), Sozialminister von Baden-Württemberg.
Manfred Lucha (Bündnis90/Die Grünen), Sozialminister von Baden-Württemberg. | Bild: Jörg Carstensen

Ausflucht? Auf intensive Archivforschung gestützte Studien wie die der DAK kosten einen überschaubaren sechsstelligen Betrag. Aber Luchas Ministerium ist bisher an keine der Fraktionen im Landtag herangetreten, um für Zustimmung zum finanziellen Aufwand einer historischen Untersuchung zu werben.

Ist Luchas Elan erlahmt?

Dabei hatte alles hoffnungsvoll begonnen. Anfang 2020 hatte Manfred Lucha die Aufarbeitung der Kinderverschickung, an der deutschlandweit zwischen 1949 und 1993 geschätzt rund acht Millionen Kinder teilnahmen, zur Chefsache gemacht. Es wurde ein Runder Tisch mit Vertretern des Betroffenen-Netzwerks Aufarbeitung Kinderverschickungen (AKVBW), des Paritätischen Wohlfahrtverbandes, der Landesärztekammer, der Krankenkassen und Sozialverbände wie der Caritas und der Diakonie ins Leben gerufen.

Auch Geld war dem Minister die Sache wert: Fast 400.000 Euro kamen aus der Landesstiftung für biografische Einzelrecherchen Betroffener, ein Projekt, das von der Zentrale des Landesarchivs Baden-Württemberg betreut wird. Zur Verfügung steht seit Juli eine aktualisierte Neufassung des Verzeichnisses der Kinderkureinrichtungen in Baden-Württemberg. An einer Publikation zum Thema, verbunden mit einer Ausstellung, wird gearbeitet. Beides soll 2024 abgeschlossen sein. Der AKVBW erhält vom Land 30.000 Euro jährlich für Büro- und Personalaufwand.

Doch Geld ist nicht alles. Das wird im Gespräch mit der AKVBW-Vorsitzenden Andrea Weyrauch, einst selbst kurverschickt, sofort klar. Zu Luchas Rundem Tisch, der höchstens zweimal jährlich tagt, sagt sie dem SÜDKURIER: „Wir drehen uns komplett im Kreis.“ Inhaltlich komme man kaum voran. „Es fehlt an klaren Zielvorgaben und keiner hat den Hut auf“, kritisiert Weyrauch. Die Kräfte im Staatsarchiv leisteten zwar sehr gute Arbeit, doch habe sich das Land „komplett aus der Verantwortung“ genommen und beschränke sich auf eine Moderatorenrolle.

„Mit Zuhören ist es schon lange nicht mehr getan“

Auf Anfrage des SÜDKURIER antwortet das Ministerium schriftlich mit dem Hinweis auf einen „dialogorientierten und partizipativen Prozess“, der sich bewährt habe. Das stellen die Betroffenen nicht infrage, aber jetzt erwarten sie Taten. „Mit Zuhören“, sagt Andrea Weyrauch, „ist es schon lange nicht mehr getan“. Weyrauch verweist auf Nordrhein-Westfalen.

Dort ist man, was die Erforschung der Kinderkuren angeht, aktiver als in Stuttgart und kann bereits Ergebnisse vorweisen. So lieferte Marc von Miquel, Professor für Sozialpolitik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, 2022 im Auftrag des NRW-Sozialministeriums eine Pionierstudie. Inhalt: Organisation und Ausmaß der Kinderkuren im Land, Gewalterfahrungen und Medikamentenmissbrauch.

Das war nur ein erster Schritt. Das Ministerium beauftragte die Universität Düsseldorf mit einer Studie über die Medikamentenversuche nicht nur in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in Kinderkurheimen. Zur Forschungsgruppe um Professor Heiner Fangerau gehört die Pharma-Expertin Silvia Wagner. Erste Ergebnisse werden im Herbst vorgelegt.

War vielleicht sogar die Landespolitik in die Versuche an Kindern verwickelt? Wagner deutet dem SÜDKURIER auf Anfrage an: „Es gibt Hinweise auf Impfstoff-Testungen, bei denen das Land in der Verantwortung steht.“ Das hat bereits Geld bereitgestellt: Mehr als 400.000 Euro kostet die neue Studie.

Verständlich, dass auch unter früheren Verschickungskindern, die zur Kur in Baden-Württemberg waren, Stimmen lauter werden, die von Minister Lucha dieselbe Aufklärungsbereitschaft erwarten wie man sie in Düsseldorf an den Tag legt. „Wir wollen wissen, was uns an Medikamenten verabreicht wurde und welche Folgen das gehabt haben könnte“, sagt Silvia Wisbar (63) auf Anfrage. Wisbar war 1966 für sechs Wochen zur Kur im damaligen DRK-Kindersolbad in Bad Dürrheim („Haus Hohenbaden“), mit rund 350 Plätzen eines der großen Kurheime.

Silvia Wisbar.
Silvia Wisbar. | Bild: privat

Silvia Wisbar erzählt, wie man immer wieder in Reihe antreten musste und unbekannte Medikamente verabreicht bekam. Die Eltern waren nicht informiert. Alles Wissen lief bei Dr. Hans Kleinschmidt (1905- 1999) zusammen, der von 1956 bis 1973 Chefarzt des Kindersolbades war.

Welche Pharmaprodukte Kleinschmidt vermutlich in Zusammenarbeit mit den deutschen Herstellern testete, geht aus einer Publikationsliste hervor, die ehemalige Verschickte im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv fanden. Sie verzeichnet eine lange Reihe von Fachartikeln für medizinische Zeitschriften, in denen Kleinschmidt die Ergebnisse seiner Erprobungen von Tabletten, Säften und Spritzen wissenschaftlich darlegt.

Hans Kleinschmidt
Hans Kleinschmidt | Bild: Mitteilungsblatt d. Dt. Roten Kreuzes, Landesverb. Ba-Wü u. Südbaden. 14 (1962), H. 5/6, S. 7

Dass Kleinschmidt in Bad Dürrheim nicht nur harmlose Infekterkrankungen behandelte, sondern auch gesunden Kindern Präparate ohne Marktzulassung verabreichte, steht für die Pharma-Historikerin Wagner unzweifelhaft fest. Sie hat die Aufsätze des Arztes analysiert. Der schrieb etwa nach dem Versuch mit Zäpfchen, es seien 65 Kinder „zur Testung ausgewählt“ worden. Der Autor nannte nur den Namen des Wirkstoffs, nicht den des Präparats. Das ließe, so Wagner, die Vermutung zu, dass das Medikament noch nicht auf dem Markt war.

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Über die Ruhigstellung von Kindern mittels Sedativen (Tranquilizer), verabreicht von Betreuerinnen, ist Hans Kleinschmidt weit hinausgegangen. Er arbeitete mit Placebos und unbehandelten Vergleichsgruppen. In seiner Liste finden sich Antibiotika, Hustentherapeutika, Asthma-Präparate, Tabletten gegen Masern und Mittel gegen Wurmmaden-Befall und dazu die Namen einiger deutscher Hersteller. Nach einer Anfrage der Redaktion bei zwei der Unternehmen – Janssen-Cilag in Neuss und sowie Schaper & Brümmer in Salzgitter – bekundete man dort die Bereitschaft, die wissenschaftliche Aufarbeitung zu unterstützen.

Ein Gutachten der Landesärztekammer Baden-Württemberg, das dem SÜDKURIER vorliegt, wirft Kleinschmidt vor, eventuelle Unverträglichkeiten bei den Probanden vernachlässigt zu haben. In einigen Fällen sei die „Wahrscheinlichkeit von unerwünschten Spätfolgen“ der Versuche zu klären. Der Autor mahnt „umfassende Aufarbeitung“ an. Silke Fehlemann vom Fangerau-Forschungsteam spricht von gewollten Überdosierungen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, denen man in NRW bei Contergan auf die Spur kam.

Katja Brink (58, Name geändert), 1971 nach Bad Dürrheim verschickt, weiß bis heute nicht, warum sie dort drei Wochen auf der Isolierstation lag – „angeblich mit Masern“. Denn daran erkrankte sie zuhause nochmal. Brink war, wie sie sagt, gelegentlich „aufsässig“. Dann sei Hans Kleinschmidt „mit der Spritze gekommen“. Sie klagt nicht über mögliche Spätfolgen von Arzneiversuchen, Silvia Wisbar indes erkrankte mehrfach kritisch: Als Achtjährige, zwei Jahre nach der Kur auf der Bar, erlitt sie eine rechtsseitige Niereninsuffizienz. Deswegen wurde sie mit zwölf Jahren operiert und erhielt einen künstlichen Harnleiter. Später erkrankte sie an Morbus Crohn und einem Blutkrebs, der in ihrer Familie nie aufgetreten ist. „Zu heilen ist das nicht“, sagt sie.

Weiß man Ende des Jahres mehr?

Aber sich um Aufklärung zu bemühen, das sei machbar, so die 63-Jährige. „Wie in Nordrhein-Westfalen.“ Silvia Wisbar leitet eine Gruppe ehemaliger Bad Dürrheimer Kurkinder. Hundert sind es bereits, die „von der Politik endlich ernst genommen werden wollen“. Rund 3000 Kinder wurden jährlich durch Kleinschmidts Klinik geschleust. An wie vielen getestet wurde, wird sich wohl nicht mehr klären lassen.

Der DRK-Landesverband Badisches Rotes Kreuz hat bei Historikern der Universität Freiburg eine Studie in Auftrag gegeben, die sich vor allem dem Haus in Bad Dürrheim widmet. Ende des Jahres soll das umfangreiche Werk vorgestellt werden. Dass auch Manfred Lucha zügig Geld in die Forschung leitet, glaubt AK-Vorsitzende Andrea Weyrauch indes nicht. Für sie steht fest: „Winfried Kretschmann muss das jetzt zur Chefsache machen.“