Darf in der Schweiz das Gesicht bald nicht mehr verhüllt werden? Die Frage wirkt nach Monaten des routinierten Maskentragens aus der Zeit gefallen. Allerdings geht es bei der Volksabstimmung am 7. März gar nicht um Corona.
Die Schweizer Bürger entscheiden dennoch über ein Thema mit Sprengkraft: Das Verhüllungsverbot zielt vor allem auf vollverschleierte Musliminnen ab, Burka oder Niqab sollen durch eine Verfassungsänderung aus dem öffentlichen Bild verschwinden. Die Kampagne, mit der die Volksinitiative „Ja zum Verhüllungsverbot„ wirbt, lässt daran keinen Zweifel.
Worüber stimmen die Schweizer ab?
Über die Änderung ihres Grundgesetzes. Der zehnte Artikel (“Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit“) soll ergänzt werden. Zunächst lautet die neutrale Forderung, niemand dürfe in der Öffentlichkeit, in öffentlich zugänglichen Räumen oder Behörden verhüllt sein. Ausgenommen als Orte sind lediglich Gotteshäuser oder andere religiöse Stätten.
Der zweite Absatz des Verfassungstextes sowie die Urheber lassen jedoch erkennen, auf wen das Verbot abzielt: „Niemand darf eine Person zwingen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen.“
An wen richtet sich das Verbot de facto?
Erste Adressaten sind Musliminnen, die einen Niqab oder eine Burka – beides Formen der Vollverschleierung – tragen. In der Abstimmung hat sich der Begriff Burka-Verbot verbreitet, auch wenn diese in der Schweiz allenfalls von Touristinnen getragen wird. In der gesamten Schweiz wären laut Schätzungen um die 30 Frauen betroffen. Kopftücher oder Hijabs, mit dem Haar und Hals verdeckt werden, wären nicht verboten.

Ferner zielt das Verbot auf ein schweizweites Vermummungsverbot bei politischen Demonstrationen. Auch die Hooligan-Szene haben die Urheber der Volksinitiative im Blick, die sich laut Kampagne „ausdrücklich auch gegen jene Verhüllung, der kriminelle, zerstörerische und vandalistische Motive zugrunde liegen“ richtet.
Werden Gründe als Ausnahmen vom Verschleierungsverbot genannt?
Als erste Ausnahme sind medizinische Gründe aufgeführt, das Tragen von Masken wie in der Corona-Pandemie wäre nicht verboten. Auch in den Bereichen Sicherheit (Helmpflicht auf dem Motorrad), Klima (Schal gegen Kälte), oder „einheimisches Brauchtum“ (Fastnacht) bliebe ein verdecktes Gesicht erlaubt. Nicht geregelt sind die Regeln für Straßenkünstler oder Vereinsmaskottchen, wenngleich die Urheber der Initiative betonen, dass sie „selbstverständlich nicht bedroht“ seien.
Ebenfalls nicht ausgenommen sind Touristen. Das bringt manch Vertreter der Reisebranche aus Regionen wie Genf, Zürich, Interlaken oder Montreux ins Schwitzen. Schließlich hat sich die Zahl der Übernachtungen von mitunter schwerreichen Urlaubern aus den Golfstaaten seit 2009 auf eine Million verdreifacht. Vor allem aber gibt laut Tourismusverband kein Gast durchschnittlich mehr pro Tag aus: über 400 Franken.
Von wem geht die Initiative aus und wie kam sie zustande?
Vater des „Ja zum Verhüllungsverbot„ ist das Egerkinger Komitee. Der Verein steht der nationalkonservativen, rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) nahe, setzt sich nach eigenen Angaben „gegen die schleichende Islamisierung“ im Land ein und hat 2009 erfolgreich für das Verbot von Minaretten geworben. Vater ist im Wortsinn zu verstehen: Der innere Zirkel des Komitees, ein sechsköpfiger Vorstand, besteht ausschließlich aus Männern. Im September 2017 wurde die Volksinitiative mit circa 105.000 Unterschriften eingereicht und kommt nun zur Abstimmung beim Volk.
Was sind die wichtigsten Argumente von Befürwortern und Gegnern?
Neben der Rechtssicherheit für Behörden argumentiert das Pro-Lager damit, dass eine Verhüllung nicht dem freiheitlichen Geist der Schweiz entspreche. Außerdem dürften Frauen nicht mehr zur Verhüllung des Gesichts gezwungen werden.
Die Gegner der Initiative argumentieren mit einem zu tiefen Eingriff in die Grundrechte, einer Verdrängung betroffener Frauen aus dem öffentlichen Leben und einem ohnehin geltenden Verbot, eine Frau zur Verschleierung zu zwingen.
Wer ist gegen ein Verhüllungsverbot und wer dafür?
Von den größten Schweizer Parteien empfiehlt nur die SVP und die christlich-rechtskonservative Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) ein Verhüllungsverbot. Die Evangelische Volkspartei (EVP) hat in ihrer Empfehlung die Stimmen freigegeben.
Dagegen sind – neben den wichtigsten religiösen Organisationen – Grüne, Sozialdemokraten, Grünliberale, FDP und der noch junge Zusammenschluss aus Christlichdemokratischer Volkspartei und Bürgerlich-Demokratischer Partei (Die Mitte) gegen den Vorschlag.
Wie bewerten Parteien das Verhüllungsverbot?
Beide Schweizer Kammern, der Nationalrat (114 zu 76 Stimmen) und der Ständerat als kantonale Vertretung (34 zu neun), empfehlen mehrheitlich eine Ablehnung.
Was schlagen sie stattdessen vor?
Der parlamentarische Gegenvorschlag würde bei einem Nein zur Initiative automatisch als Gesetz in Kraft treten, wenn es kein Referendum dagegen gibt. Er sieht vor, dass alle Personen vor allen Behörden und deren Vertretern, zum Beispiel auch bei der Fahrscheinkontrolle, ihr Gesicht zeigen müssen. Wer sich weigert, muss ein Bußgeld bezahlen oder auf die gewünschte Leistung verzichten.

Außerdem sind Änderungen in den Bereichen Integration, Gleichstellung und Entwicklungshilfe vorgesehen, die auf die Stärkung von Frauen abzielen.
Gibt es bereits Kantone, in denen eine Verschleierung verboten ist?
Die Kantone Tessin (2016) und St. Gallen (2019) haben nach Bürgerentscheiden bereits entsprechende Verbote eingeführt. Durchgesetzt werden mussten sie bislang allerdings kaum. Wie Recherchen des 'Tagesanzeiger' ergaben, wurden im Tessin 60 Verstöße registriert, wobei jeweils die Hälfte auf vermummte Sportfans beziehungsweise vollverschleierte Frauen entfielen. In St. Gallen kam es zu einer Anzeige – gegen einen Fußballfan.
Welches Ergebnis ist am 7. März zu erwarten?
Zunächst schienen die Befürworter Oberwasser zu haben. Bei einer Umfrage im Januar 2021 durch die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) gaben 56 Prozent der Befragten an, ganz bestimmt oder eher für ein Verbot stimmen zu wollen. 40 Prozent waren eher oder ganz sicher dagegen. In der Februar-Umfrage hat sich das Blatt gedreht, es deutet auf ein Patt hin: Während 49 Prozent zu einem Ja tendieren, sind 46 Prozent dagegen.