Schon heute hat es nicht leicht, wer von Konstanz, Singen oder Rottweil nach Stuttgart mit der Bahn fährt. Ab Singen benötigt die Gäubahn knapp zwei Stunden in die Landeshauptstadt – mit dem Auto ist man je nach Verkehrslage deutlich schneller. Doch in Zukunft wird das Bahnfahren für Menschen aus der Region noch unattraktiver.
Wenn Stuttgart 21 tatsächlich umgesetzt ist, ist für die bisherige Gäubahnstrecke kein Platz mehr. Fahrgästen droht dann für zehn Jahre der Umstieg auf S-Bahn, Busse und Stadtbahnen in Stuttgart-Vaihingen. Macht unter Umständen 30 Minuten mehr – volle S-Bahnen zu Stoßzeiten inklusive. Warum das so ist? Kompliziert. Es hat damit zu tun, dass bei S21 alles unter die Erde muss – bei der Gäubahn ist der Anschluss dafür allerdings noch nicht einmal richtig geplant.
Die Strecke mit dem schönsten Blick über Stuttgart
Die Strecke, auf der die Gäubahn bislang von Stuttgart-Vaihingen aus gemächlich in den Kessel der Landeshauptstadt abtaucht, heißt Panoramabahn. Aus gutem Grund. Es gibt keinen Schienenweg aus und nach Stuttgart mit einem schöneren Blick über die Stadt.
Geht es nach der Deutschen Bahn, gehört das Eisenbahn-Schmuckstück aber bald ins Archiv der historischen Bahnstrecken. Denn bei der Verlegung der S-Bahn-Gleise in Stuttgart, die wegen Stuttgart 21 nötig wird, ist der Damm der Panoramabahn im Weg. Teil der Projektplanung ist daher seit jeher, die Strecke ein halbes Jahr vor Inbetriebnahme des neuen Tiefbahnhofs zu kappen.
Zehn Jahre Bauzeit für den Tunnel, mindestens
Künftig soll die Gäubahn über den Stuttgarter Flughafen und den neuen Fildertunnel zum Tiefbahnhof kommen. Eine bequeme, schnelle Anbindung. Vor 20 Jahren war man allerdings noch davon ausgegangen, dass diese neue Gäubahn-Flughafenanbindung und der neue Tiefbahnhof in Stuttgart gleichzeitig fertig würden und der Gäubahn lediglich eine kurze Unterbrechung drohen würde – von einem halben Jahr Unterbrechung war in der Projektplanung die Rede.
Doch während der neue Bahnhof Ende 2025 in Betrieb gehen soll und das Ende der Panoramabahn damit Mitte 2025 besiegelt wäre, ist die Flughafenanbindung der Gäubahn bis heute noch nicht einmal rechtskräftig geplant. Am 18. Juli könnte der Stuttgart-21-Lenkungskreis grünes Licht für die Anbindungsvariante „Pfaffensteigtunnel“ geben – allerdings erst dann, wenn die Finanzierung der Kosten von rund einer Milliarde Euro geklärt ist. Die Bahn geht von rund sechs Jahren reiner Bauzeit aus, Skeptiker aber sprechen nach den bisherigen Erfahrungen mit dem Milliardenprojekt von mindestens zehn Jahren.

Bliebe es also bei der von der Bahn geplanten Kappung der Panoramastrecke in Stuttgart, hieße das für Fahrgäste im Fern- und Regionalverkehr auf der Gäubahn: mindestens zehn Jahre Interimslösung mit Umstieg in S-Bahn, Bus und Stadtbahn auf dem Regionalbahnhof Stuttgart-Vaihingen. Dieser wurde eigens dafür ertüchtigt und zu einem neuen Mobilitätsdrehkreuz ausgebaut. Aber was die Bahn als bequemen und barrierefreien Umstieg mit vielen Anschlussoptionen bewirbt, ist für Kenner des Stuttgarter Nahverkehrsnetzes ein kommender Albtraum.
„Das geht gar nicht.“Martin Bachhofer, Landesgeschäftsführer Nabu
Denn obwohl die Kapazität der in Stoßzeiten bereits jetzt chronisch überlasteten S-Bahn mit Inbetriebnahme des neuen Tiefbahnhofs erhöht werden soll, um zusätzlich Pendler und Fernreisende von der Gäubahn aufzunehmen und Richtung Bahnhof und zurück zu schaffen, droht Fahrgästen in Vaihingen ein Nothalt. Denn die S-Bahn in Stuttgart durch die Führung durch nur zwei zentrale Nadelöhre ist extrem störungsanfällig, technische Störungen, Fahrzeug- oder Personenschäden legen regelmäßig den Betrieb in der Stadt lahm. Und mit dem Wegfall der Panoramabahnstrecke würde ausgerechnet auch noch die bereits heute unentbehrliche Ersatzstrecke für die S-Bahn aus der Stadt heraus entfallen. Nicht nur der BUND fürchtet, dass die Menschen da lieber wieder aufs Auto umsteigen. „Das geht gar nicht“, meint Landesgeschäftsführer Martin Bachhofer.

Doch noch Hoffnung für die Panoramastrecke?
Aber nun ist Bewegung in die Sache gekommen, es keimt neue Hoffnung für die Panoramabahn. Denn gleich zwei Rechtsgutachten bescheinigen der Bahn, die Strecke gar nicht stilllegen zu dürfen. Ende Mai legte ein Bündnis aus ökologischen Umwelt- und Verkehrsverbänden sowie S21-Gegnern die beim Passauer Rechtsprofessor Urs Kramer in Auftrag gegebene Expertise vor.
Kramer hält die Unterbrechung der Gäubahn vom bestehenden Planfeststellungsbeschluss für nicht gedeckt und der Abbau der Gleise somit nicht für zulässig. Dies entspreche einer Stilllegung, die die Bahn aber gar nicht beantragt habe. Die Strecke sei dem Schienenverkehr bis zum Hauptbahnhof gewidmet und freizuhalten, konstatiert Kramer.
Der Verkehrsclub VCD, Mitauftraggeber des Gutachtens, sieht sich bestätigt und nun die Projektpartner von Stuttgart 21 gefordert. „Der Erhalt der Gäubahn bis zum Hauptbahnhof auch über 2025 hinaus ist nicht nur baulich und technisch möglich, sondern auch zwingend geboten“, sagt der VCD-Landesvorsitzende Matthias Lieb. Eine Forderung, die auch der grüne Landesverkehrsminister Winfried Hermann schon seit langem erhebt. Schon in der legendären S21-Schlichtung 2010/2011 hatte der Schlichter, CDU-Politiker Heiner Geißler den Erhalt der Panoramabahn gefordert.
Das Gleisgelände ist eigentlich längst verplant
Schützenhilfe kommt nun von unerwarteter Seite. Denn vergangene Woche wurde die Existenz eines weiteren Rechtsgutachtens bekannt, das in etwa zum gleichen Ergebnis kommt wie das aus Passau und der Bahn eine Betriebspflicht für die Strecke bescheinigt.
Auftraggeber des Gutachtens ist pikanterweise die Stadt Stuttgart. Der Stadtverwaltung liegt das Gutachten der Berliner Kanzlei WRMC bereits seit 2020 vor, die Rathausspitze hatte es aber seitdem wohlweislich unter Verschluss gehalten, auch vor dem Gemeinderat, in dem es eine linksgrüne Mehrheit gibt. Denn das riesige Gleisgelände hinter dem alten Kopfbahnhof, auf dem auch die Gäubahn in die Stadt kommt, ist längst von den Städtebauern verplant. Bleiben Gleise bestehen, ist der Bau des ganzen neuen Stadtquartiers blockiert – was ja für die Landeshauptstadt ein Grund für S21 war.

SPD und Grüne im Stuttgarter Gemeinderat sind empört. Sie wollen jetzt prüfen, was auch die Fraktion Linke/SÖS aus dem Lager der S21-Gegner schon längst fordert: die Panoramabahn zu erhalten, bis die Flughafenanbindung fertig ist. Oder sogar darüber hinaus.
Die Bahn hatte das noch 2018 selbst geprüft und in einer Machbarkeitsstudie in einer ein- oder zweigleisigen Variante für möglich erklärt, aber nicht verfolgt. Das Unternehmen sieht jedenfalls trotz der Gutachten keinen neuen Handlungsbedarf. „Die Deutsche Bahn wird die Panoramabahn ab Mitte 2025 außer Betrieb nehmen, da das bestandskräftige Planungsrecht den Rückbau des Bahndamms der Gäubahn vorsieht“, teilt das Unternehmen unbeeindruckt mit.
VCD-Chef wundert sich: Wo bleibt der Aufstand der Bürgermeister?
VCD-Chef Matthias Lieb, der auch Vorsitzender des Fahrgastbeirats bei der Landesregierung ist, kann überhaupt nicht nachvollziehen, dass eine solche Lösung mit geringem Aufwand, wenig Kosten und hohem Nutzen für die Fahrgäste nicht verfolgt wird. „Eine Milliarde Euro und zehn Jahre Unterbrechung der Gäubahn gegen vier Wochen Unterbrechung und eineinhalb Millionen Euro bei Erhalt der Strecke“, rechnet Lieb vor.

Und noch eines begreift er nicht. „Wo bleibt bei der ganzen Debatte eigentlich der Aufstand der Bürgermeister in den Kommunen entlang der Gäubahn?“ fragt Lieb.
Von den Anrainerkommunen nehme er bislang keinen massiven Druck wahr. „Da muss man sich fragen, welche Interessen eigentlich der Interessenverband Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn vertritt“, fragt sich Lieb. Dieser hatte sich erst Ende März für den Bau des Pfaffensteigtunnels ausgesprochen und von der Bahn lediglich eine gutes Übergangskonzept für die Dauer der Unterbrechung verlangt.
Von zehnjähriger Unterbrechung ist nicht die Rede im Koalitionsvertrag
Erst kürzlich hatte der VCD den Interessensverbands-Vorsitzenden, den Tuttlinger CDU-Landtagsabgeordneten Guido Wolf, um die Teilnahme bei einer Online-Podiumsdiskussion zur Unterbrechung der Gäubahn gebeten. Wolf sagte allerdings Anfang Juni mit Verweis auf seinen anstehenden zweiwöchigen Urlaub und seinen auch anschließend ausgebuchten Terminkalender ab.
Seine Teilnahme mache auch wenig Sinn, so Wolf, schließlich sei seine Aufgabe als Vorsitzender, die Interessen der Anlieger gegenüber Bund, Bahn und Land zu vertreten. Im Übrigen seien die politischen Gespräche zu Panoramabahn und Pfaffensteigtunnel ohnehin in vollem Gang.
Auch dem SÜDKURIER teilt Wolf mit, dass sich auch die grün-schwarze Landesregierung im Koalitionsvertrag positioniert, habe, der Interessenverband teile diese Position.
In dem Papier steht zur Gäubahn allerdings lediglich: „Wir befürworten die Umsetzung (…) des Ausbaus der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen mit dem langen Gäubahntunnel zum Flughafen“. Von einer zehnjährigen Unterbrechung oder dem Umstiegshalt ist da nicht die Rede, dagegen heißt es zur Zukunft des Eisenbahnknotens Stuttgart: „Den Erhalt der Panoramabahn werden wir umsetzen.“
Vom neuen Staatssekretär noch nicht profitiert
Auch um Michael Theurer ist es stiller geworden. Der FDP-Politiker, frühere Bürgermeister von Horb und zeitweilig selbst Vorsitzender des Interessenverbands Gäubahn, hatte noch vor Jahresfrist den Umsteigehalt in Vaihingen und eine längere Unterbrechung der Gäubahn als „absolut inakzeptabel“ bezeichnet.
Seit dem Regierungswechsel in Berlin ist Theurer aber von der Oppositionsbank als Staatssekretär ins Bundesverkehrsministerium gewechselt und nun auch Schienenverkehrsbeauftrager der Bundesregierung. Den in der Region erhofften Impuls pro Gäubahn konnte Theurer aber noch nicht setzen.
Für den VCD-Chef und leidenschaftlichen Bahnfahrer Matthias Lieb bleibt bei allem vor allem einer auf der Strecke: der Fahrgast.