Freiburg. Es sind Szenen wie im Wahlkampf, die sich dieser Tage in Freiburg abspielen: Plakate an fast jeder Laterne, Kundgebungen, Infostände. Doch es sind keine Politiker, über die Freiburg am kommenden Sonntag abstimmt. Die Frage auf dem Wahlzettel lautet: „Soll das Dietenbachgebiet unbebaut bleiben?“

Gemeint ist ein 130 Hektar großes Gelände, das momentan landwirtschaftlich genutzt wird. Wobei allein schon die Definition strittig ist: Die einen sprechen von wertvollem Ackerland, die anderen von einer Maiswüste. Auf ebendiesem Gebiet möchte die Stadtverwaltung ein neues Viertel errichten, das die akute Wohnungsnot lindern soll. Bis zu 15 000 Menschen könnten dort einmal Platz finden; es wäre eines der größten Bauprojekte im Land.

Mehrheit im Gemeinderat dafür

Ob es dazu kommt, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Zwar gibt es im Gemeinderat eine überwältigende Mehrheit für Dietenbach (auch die Grünen sind dafür). Allerdings haben die Gegner – eine Initiative aus Umweltverbänden, Landwirten und Wachstumskritikern – in den vergangenen Wochen mächtig Stimmung gemacht. Dabei geht es auch um die Frage, wie stark sich Naturschutz und Wohnungsbau überhaupt miteinander vertragen.

Traktor-Demo der Dietenbach-Gegner.
Traktor-Demo der Dietenbach-Gegner. | Bild: Steve Przybilla

Die Situation ist seit Langem angespannt, weil mehrere Tausend Wohnungen fehlen. Die Freiburger geben im Schnitt 38 Prozent ihres Einkommens für Miete aus. Damit zählt Freiburg zu den teuersten Städten Deutschlands. In Zeitungsannoncen präsentieren sich potenzielle Mieter oft wie beim Casting, inklusive Foto. Auf Flugblättern versprechen Wohnungssuchende sogar Prämien, wenn ihnen jemand eine Bleibe besorgt.

"Nein zur Wohnungsnot": Werbeplakat der SPD für den neuen Stadtteil. Von 48 Stadträten sind 43 für Dietenbach.
"Nein zur Wohnungsnot": Werbeplakat der SPD für den neuen Stadtteil. Von 48 Stadträten sind 43 für Dietenbach.

Abhilfe oder zumindest Linderung könnte ein neuer Stadtteil bringen. „Wir brauchen Dietenbach, weil Freiburg sonst keine Zukunft hat“, heißt es in einem gemeinsamen Statement, das 43 von 48 Freiburger Stadträten veröffentlicht haben. Die Gegner argumentieren nicht weniger leidenschaftlich. Auf ihrer Website sieht man eine Landkarte, auf der sich Geldscheine und Monopoly-Häuschen stapeln. Klare Botschaft: Hier tummeln sich Bau-Spekulanten.

Die Realität gestaltet sich komplizierter. So schätzt die Stadtverwaltung, dass die Einwohnerzahl bis 2030 auf 245000 Personen ansteigt. Das wäre ein Plus von 25 000 Menschen im Vergleich zu 2015. „Dietenbach schafft bezahlbaren Wohnraum, damit eine Polizistin, ein Krankenpfleger, ein Feuerwehrmann oder eine Erzieherin in Freiburg wohnen und arbeiten können“, argumentieren die Befürworter, zu denen Wohlfahrtsverbände, das Studierendenwerk und die Bauwirtschaft gehören.

Gegner bezweifeln Zahlen

Die Gegner zweifeln an diesen Zahlen und verweisen auf das Statistische Landesamt, dessen Prognose von nur 236 000 Einwohnern bis 2030 ausgeht. Mehr noch: Sie glauben nicht, dass Dietenbach überhaupt nötig ist, weil der zusätzliche Bedarf durch bereits beschlossene Baugebiete und innerstädtische Aufstockungen gedeckt werden könnte. Zum Beispiel, indem Dachstühle aus- oder Parkplätze überbaut werden. Da die politischen Mehrheiten klar sind, hatten sich die Befürworter lange Zeit zurückgelehnt. Erst als die Gegner es schafften, genügend Stimmen für ein Bürgerbegehren zu sammeln, brachte sich auch die Pro-Fraktion in Stellung. Der Volkswille ist eben nicht leicht zu prophezeien. So hatte im vergangenen Jahr kaum jemand damit gerechnet, dass der langjährige grüne Oberbürgermeister Dieter Salomon gegen einen politischen Newcomer verlieren würde.

Inzwischen befindet sich der „Wahlkampf“ in der Endphase. Die Infoabende der vergangenen Wochen waren so gut besucht, dass manche Besucher keinen Stuhl mehr fanden. Immer wieder kam die Frage auf, wer von einem neuen Stadtteil am Ende profitiert. Sind es wirklich die viel zitierten Erzieherinnen, die das Rathaus gerne anführt? Oder eher „reiche Hamburger“, die Zweitwohnungen kaufen (wie von den Gegnern gerne behauptet)?

Gut an Straßenbahn- und Radwegenetz angeschlossen

Die Landwirte rufen „Boden statt Beton“; die Befürworter beteuern, dass ohne das Projekt alles nur schlimmer werde. Wenn Dietenbach nämlich außerhalb der Stadtgrenzen entstünde, würde der Pendelverkehr zunehmen. Zumal das Quartier gut ans existierende Straßenbahn- und Radwegenetz angeschlossen werden soll.

Bis jetzt wagt niemand zu sagen, welche Argumente am meisten verfangen. Klar ist aber: Selbst wenn die Mehrheit gegen Dietenbach stimmt, müssten irgendwo in der Stadt neue Wohnungen entstehen. Oder im Umland. Projektleiter Rüdiger Engel brachte es bei einem Infoabend auf den Punkt: „Ohne Dietenbach wird es zu einem zwei- bis vierfachen Flächenverbrauch in der Region kommen.“ Es klang fast wie eine Drohung.