Groß scheint das Interesse an der Debatte über Ganztagsschulen an diesem Nachmittag nicht. Denn nur sporadisch sind die Sitze im Plenum des baden-württembergischen Landtags von Abgeordneten belegt.
Doch unter jenen, die anwesend sind, wird aufgeregt gestritten: "Ja, Herr Fiechnter", schimpft der Grünen-Abgeordnete Jürgen Walter vom Rednerpult aus auf den fraktionslosen Ex-AfDler, "Sie können nur dazwischen bläken – aber jetzt sind Sie mal ruhig! Offensichtlich hätte man Sie in die Ganztagsschule schicken sollen, dann wüssten Sie, wie man sich benimmt!" Gelächter, Gejohle, weitere Zwischenrufe von der rechten Seite – bis eine Glocke ertönt: "Moment!", unterbricht und beruhigt Sabine Kurtz, stellvertretende Landtagspräsidentin und Sitzungsleiterin: "Das Protokoll kommt nicht mehr hinterher."
Mit dem Füllfederhalter den Worten auf den Fersen
Einer der Protokollanten an diesem Nachmittag ist Thorsten Kempermann. Sieben Tage nach diesem für ihn alltäglichen Vorfall sitzt der 25-Jährige in seinem kleinen Büro im zweiten Stock des Stuttgarter Landtagsgebäudes. Der Schreibtisch ist aufgeräumt, wirkt beinahe steril. Ein Auszug des Protokolls jener 83. Plenarsitzung liegt vor ihm, daneben ein silberfarbener Füllfederhalter:
"Ein besonderes Modell", sagt Kempermann und lässt den Stift vorsichtig durch seine Finger gleiten.

Es ist das Werkzeug des Parlamentsprotokollanten, mit dem er das gesprochene Wort im Plenum notiert – in Kurzschrift als Stenogramm. "Flink im Kopf und mit der Hand muss man für diesen Beruf sein", sagt Thorsten Kempermann und legt den Füller vorsichtig zurück auf den Tisch. Seit Oktober 2014 befindet er sich in der Ausbildung zum Stenografen. Nebenher studiert er, "eine Grundvoraussetzung für diesen Beruf", erklärt Kempermann.
Die Idole seiner Jugend waren keine Fußballspieler – sondern Stenografen
Schon zu Schulzeiten interessierte er sich für Textverarbeitung und für Stenografie, nahm deshalb gelegentlich an Meisterschaften Teil. Kein Sport für die breite Masse, aber für ihn genau richtig – und wegweisend. Denn dort lernte Thorsten Kempermann Menschen kennen, die in diesem für viele unsichtbaren Feld arbeiteten.
Sie wurden – anders als bei den meisten Jugendlichen seines Alter, die ihren Idolen auf dem Fußballplatz nacheiferten – seine Vorbilder. Und er entschied sich, ihnen zu folgen.
Parteilichkeit kann sich ein Protokollant nicht leisten
"Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch" – diese mittlerweile historischen Worte des einstigen Grünen-Politikers Joschka Fischer, gefallen 1984 im Bonner Bundestagsplenum, fanden ihren Weg nicht mehr in das Protokoll der Sitzung. Denn die hatte der von Fischer beleidigte Vizepräsident Richard Stücklen, CSU, nach heftigen Tumulten bereits unterbrochen.

"Nein, einen ähnlichen Vorfall gab es in meiner Zeit bislang nicht", sagt Kempermann lachend, um sogleich etwas geständig fortzufahren: "Aber natürlich gibt es auch für mich Situationen, in denen ich in mich hineinschmunzeln muss." Zeigen darf er das jedoch nicht.
Denn Parteilichkeit kann sich ein Protokollant nicht leisten.
Für ungeübte Betrachter ist Stenografie unlesbar – für Thorsten Kempermann nicht
Damit Kempermann dem gesprochenen Wort im Plenum überhaupt folgen kann, brauchte es jahrelange Übung. Wieder nimmt er sein Werkzeug, den silbernen Füllfederhalter, in die rechte Hand und malt das gerade Gesagte – beinahe künstlerisch – in stenografischer Redeschrift mit. Es ist eine Reduktion auf das Wesentliche, eine Aneinanderreihung von Strichen und Kringeln.
Für den ungeübten Betrachter unlesbares Gekrakel, für Thorsten Kempermann sinnhaftes Extrakt.

Im Fünf-Minuten-Turnus schreiben die Stenografen das Gesagte mit – nur eine Stunde sind sie dem gesprochenen Wort hinterher
Alleine sorgt Kempermann allerdings nicht dafür, dass im Plenum kein Wort verloren geht. "Das wäre nicht machbar", sagt er.
Bis zu zwölf Turnusstenografen sind deshalb an einem Sitzungstag im Einsatz. Im Plenum selbst sitzen sie stets zu zweit: Für die Dauer von fünf Minuten schreibt der Erste die Worte des Redners mit, der Zweite notiert das Zwischengetöse der anderen Abgeordneten. Nach fünf Minuten folgt die Ablösung. Die Stenografen sausen in ihr Büro, wo sie in einer Stunde das Gesagte in Reinschrift bringen – und der Kreislauf beginnt von vorne.
Durch dieses sich wiederholende System ist der stenografische Dienst dem gesprochenen Wort stets auf den Fersen. "Nur eine Stunde sind wir hinterher", sagt Kempermann.
Thorsten Kempermann: "Je unruhiger es wird, desto schwieriger."
Mittlerweile kennt er nicht mehr nur die Namen aller 143 Landtagsabgeordneten, Grundvoraussetzung für seine Arbeit, sondern auch deren Lieblingssätze. "Darunter gibt es natürlich Redner, die man leichter stenografieren kann als andere", erklärt Kempermann. Namen nennen möchte er keine. Auch hier bleibt er der Überparteilichkeit verschrieben, die seinen Beruf prägt und ausmacht.
Und wichtiger als der Redner sei vielmehr der Lärm während eines Turnusses. "Je unruhiger es wird, desto schwieriger", sagt Kempermann.
Kempermann kann das, was Mikrofone nicht können – zuhören und zuordnen
Ein Grund, warum der Beruf des Stenografen auch angesichts der fortschreitenden Digitalisierung nicht aussterben wird, ist sich Kempermann sicher. Denn Mikrofone können das gesprochene Durcheinander während einer hitzigen Debatte nicht entwirren und ihren Rednern zuordnen. Die Stenografen aber können es. Zudem müsste jeder Winkel des Plenums abgehört werden – kein privates Wort wäre mehr möglich.

An seinem Arbeitsplatz, dem Stenografentisch inmitten des baden-württembergischen Plenums, das Rednerpult direkt nebenan, spricht heute niemand. Die nächste öffentliche Sitzung ist erst für die kommende Woche angesetzt.
Kempermann, der inzwischen auf seinem Stuhl im leeren Plenum Platz genommen hat, genießt die Stille an diesem Tag: heute keine Reden, keine Zwischenrufe und kein Glockenläuten – und einmal nicht den Worten auf den Fersen.
Zahlen und Fakten
- Die Protokolle des baden-württembergischen Landtags werden im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart aufbewahrt. Sie reichen zurück bis zur 12. Wahlperiode, beginnend mit dem 11. Juni 1996.
- Derzeit befindet sich der Landtag in der 16. Wahlperiode, in welcher der stenografische Dienst bislang rund 5000 Seiten Protokoll aus 81 Sitzungen erstellt hat.
- Zum Vergleich: In der vergangenen 15. Wahlperiode erstellten die Stenografen 9085 Protokollseiten in 150 Sitzungen. Das enstpricht rund 61 Seiten pro Sitzung. (lre)