Vor einer rasant wachsenden Gefahr durch offenen Antisemitismus und eine wachsende Zahl von antisemitischen Straftaten in Baden-Württemberg hat der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus, Michael Blume, in seinem ersten Jahresbericht gewarnt. „Der Staat muss unbedingt viel stärker in die Strafverfolgung einsteigen. Dazu gehört, dass geltende Haftbefehle etwa gegen Rechtsextremisten auch vollstreckt werden müssen. Es war richtig vom Justizminister, Staatsanwälte gegen Antisemitismus zu beauftragen“, sagt Blume unserer Zeitung auf Anfrage.

In seinem ersten Jahresbericht warnt Blume vor allem vor den sichtbaren Folgen der zunehmenden Radikalisierung im Netz. „Es hilft nicht, die Augen vor dem alarmierenden Befund zu verschließen: Antisemitismus wird heute auch in Baden-Württemberg in vielen Sprachen medial und vor allem digital verbreitet und verstärkt, während zugleich aufgeklärte und demokratische Medien an Reichweite und Einkünften verlieren“, so Blume.

„Da rollt was auf uns zu“

Die Auswirkungen seien der Polizeilichen Kriminalstatistik zu entnehmen: Das Innenministerium verzeichnete 2018 im Vergleich zum Vorjahr 136 antisemitische Straftaten im Land, was einem Anstieg von 37 Prozent entspricht. Die Täter kamen dabei mit 130 Straftaten fast ausschließlich aus dem rechten Lager. Blume, der vor einem Jahr von allen Parteien im Landtag – mit Ausnahme der AfD – in sein Amt eingesetzt wurde, sieht seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: „Ich hatte schon bei meiner Antrittsrede darauf hingewiesen, dass da etwas auf uns zurollt. Das geht schneller als befürchtet. Der Anstieg von antisemitischer Gewalt innerhalb eines Jahres um knapp 40 Prozent unterstreicht das“, sagt der Religionswissenschaftler. Tatsächlich sei nicht die Zahl der Antisemiten gestiegen, aber ihre Gewaltbereitschaft. „Antisemiten radikalisieren sich zunehmend im Netz. Welche große konkrete Gefahr darin liegt, zeigt sich in der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke.“

Negative Mythen über Juden offenbar tief verankert

Aber auch der latent vorhandene Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft bereitet Blume große Sorge. Der „negative Mythenvorrat“ über „die Juden“ sei in der Gesellschaft tief verankert, das Antisemitismus-Potential hoch. Blume führt als Beleg die aktuellen Zahlen der „Leipzig-Studien“ an, in der seit 2002 die Verbreitung autoritärer und rechtsextremer Einstellungen in der Gesellschaft erhoben wird.

Gesellschaft muss Position beziehen

Dabei wird auch abgefragt, wie die Bevölkerung zu antisemitischen Aussagen steht, etwa dem Statement „Juden arbeiten mehr als andere mit üblen Tricks.“ Bundesweit stimmten 2018 demnach 21,5 Prozent der Deutschen dieser Aussage zumindest teilweise zu. In Baden-Württemberg, so das Ergebnis von Blumes Auswertung, lag die Zustimmung zu solchen Aussagen 2018 sogar um einen Prozentpunkt höher im Bundesschnitt. „Es ist heute kaum auszudenken, wie weit solche Radikalisierungen auch in Baden-Württemberg etwa im Fall einer wirtschaftlichen oder politischen Krise um sich greifen könnten – sie tun es sogar nach Jahren guter, wirtschaftlicher Entwicklung und insgesamt abnehmender Kriminalität“, warnt Blume. Vor allem aber müsse Antisemitimus nicht nur im Landtag diskutiert werden, sondern in der Gesellschaft.