Lothar Rapp schaut ehrfürchtig an der strammen Buche hoch. Für ihn gehört der Stamm nicht zu irgendeiner der vielen Buchen, die im Wald der Familie Graf Bodman stehen. Dieser Baum ist gewissermaßen sein Baum. Eines Tages wird Rapp hier ruhen, sagt er. Er hat das Gewächs für sich reserviert, und sein Name ist schon in die Messingplakette eingestanzt samt dem Geburtsjahr 1948. Nur das Todesdatum fehlt. So will er es und hat es schon lange mit seiner Frau abgesprochen. Seine Urne wird dereinst hier in ein 80 Zentimeter tiefes Loch versenkt werden.
Der 70-Jährige ist munter und keinesfalls lebensmüde. Als Mitarbeiter der Forstverwaltung Gut Bodman kennt er die Waldruh St. Katharinen mit ihren Buchen wie kaum ein anderer. Er streut frische Hackschnitzel auf die Wege, auf denen man mit angenehmem Knistern wandeln und meditieren kann. Rapp bietet Führungen an, zeigt die Bäume und führt Interessenten an die verschiedenen Lagen innerhalb des Geländes. Mit Seeblick, ohne Seeblick – je nachdem. Und während der Arbeit im lichten Laubmischwald entschied er sich. Hier und nirgends anders will er liegen. „Asche zu Asche“, murmelt der Mann aus Steißlingen. Asche zu Asche.
Wie dieser Waldfreund denken viele. Stätten dieser Art erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Auf dem Bodanrück, in Friedenweiler, Meßkirch, Heiligenberg. Neue Standorte kommen dazu, weil der Bedarf da ist.

Im Wald günstiger
Rein ökonomisch sind Friedwälder, was man eine Win-win-Situation nennt: Beide Seiten profitieren. Der Waldbesitzer vermietet seine Bäume auf 99 Jahre. Sie werfen in dieser Zeit Gewinn ab, ohne dass er sie fällen muss. Und die Kunden finden hier für lange Zeit Unterschlupf. Und das für weniger Geld als auf klassischen Friedhöfen.
Tatsache ist auch: Eine wachsende Zahl von Menschen kann mit den kommunalen Friedhöfen alten Schlages nicht mehr viel anfangen. Wuchtige polierte Grabsteine vom Steinmetz scheinen aus einer Zeit zu kommen, in der Repräsentation über den Tod hinaus wichtig war. Doch heute? Mit den schwindenden sozialen Bindungen verblasst auch das Schaulaufen auf dem Friedhof. Immer weniger Zeitgenossen spüren den Druck, ihre Grabstelle wie eine Visitenkarte zu gestalten – und dort sämtliche Titel vorzuführen, ihre Hobbies, ihre Wichtigkeit.
Der Friedwald erlöst von diversen Konventionen und Pflichten. Das Man-sollte-es-so-tun. Baum und Moos ersetzen Stein und Pflaster. Baumgräber sind extrem pflegeleicht, weil die Pflege gegen null geht. Wer nichts macht, macht alles richtig. Suspekt sind dagegen Verschönerungsaktionen, vor allem wenn nicht organisches Material an den Bäumen und Wurzeln deponiert wird. Der Wald soll wie ein Wald aussehen. „Es soll nicht zum Friedhof werden“, sagt Reiner Bickel.

Die ewigen Jagdgründe
Dieses stille Gesetz wird beachtet. Hier und da sieht man ein paar Blümchen, ein Kreis aus Muscheln oder Tannenzapfen. Mehr nicht. Stein, Plastik, Papier sind nicht erwünscht. Nur was organisch vor sich hinrottet und ordentlich verwest, hat hier seinen Platz. so will es die Satzung für die ewigen Jagdgründe des Menschen.
Reiner Bickel leitet die Forstverwaltung Gut Bodman. Er schaut genau hin, was im Umfeld der Bäume platziert und angeliefert wird. Zum Teil sind es Gestecke, die aus Moos, Muscheln und Blüten gebunden sind. Das akzeptiert er. Die Waldruh soll kein grüner Friedhof sein, sondern das urtümliche Gesicht des Waldes bewahren. 100 bis 120 Jahre alt sind die schier endlosen Buchen. Sie messen 30 Meter und mehr, wirken aber noch größer, wenn man am Fuß steht. Ihrer Majestät kann man sich kaum entziehen. Versöhnlich schwenken sie ihre Krone, wenn etwas Wind vom Überlinger See hochzieht. Einzelne Blätter fallen. Eine Handvoll Asche kann man nicht schöner betten.

Die ersten Friedwälder in Deutschland kannten und kennen bis heute keine Namensschilder. Die Bäume waren nur nummeriert, aus Gründen der Verwaltung. Namensschilder wurden prinzipiell abgelehnt. Das sollte im Tod keine Rolle mehr spielen. Nur etwas Asche bleibt nach der Verbrennung, sie vermischt sich schnell mit Humus und knisternden Bucheckern. Der Mensch verschwindet unter Wurzeln und in der Anonymität. Aber Name, Herkunft, Alter? Nur Schall und Rauch?
In Bodman lehnte man diesen Kult des Vergessens ab. „Wir wollten es anders gestalten und nicht namenlos bestatten“, sagt Reiner Bickel. In St. Katharina ist jeder Totenbaum mit einer ovalen Plakette markiert. Darauf sind mindestens beide Namen, Geburtsjahr und Todesjahr geschrieben. Ohne diese minimalen Angaben nimmt Bickel keinen Auftrag an. „Die meisten sind damit einverstanden“, sagt er.

Druide statt Diakon?
Die Theologen hat er auf seiner Seite. Nach christlicher Vorstellung ist der Name etwas Elementares. Wer einem Menschen seinen Namen nimmt, raubt ihm ein Stück der Persönlichkeit. Die totale Anonymisierung des Menschen im Tod nimmt ihm etwas vom Innersten. Auch deshalb waren die Kirchen anfangs sehr zögerlich, als es um die seelsorgerliche Begleitung im Friedwald geht. Das Menschenbild, das hinter dem anonymen Aschengrab steckt, ist ein anderes: Es entspricht eher dem Buddhismus oder vagen Vorstellungen von heidnischer Naturmystik. Ein Druide wäre als Trauerredner geeigneter als ein Diakon.
Der evangelische Theologe Markus Beile hat die Friedwald-Bewegung kritisch begleitet. Er spricht von einer „Ideologie“, die, von der Schweiz kommend, in Süddeutschland Fuß gefasst habe. Auch Beile störte sich an der verordneten Namenlosigkeit. Die Praxis auf dem Bodanrück in St. Katharina begrüßt er deshalb: Bäume plus Urnen plus Namen. „Kirchen müssen sich diesen neuen Vorstellungen öffnen“, sagt der Konstanzer Seelsorger.

Kelten und Germanen waren Bäume heilig
Immerhin: Heilige Bäume waren bereits den Kelten und später auch den Germanen vertraut. Beide Völker verehrten sie in ihren Hainen. Als die ersten christlichen Missionare kamen und in einer fremden Sprache predigten, klammerten sich die Germanen an ihre heiligen Bäume. Bonifatius, der wichtige Missionar aus Irland, legte die Hand an eine der heiligen Eichen und fällte sie – ohne dass ihm der Himmel auf den Kopf fiel. Ein einschneidender Akt. Der Liebe der Deutschen zum Wald tat das keinen Abbruch.
Die Eingott-Religionen können mit Blattwerk und Wurzel wenig anfangen. Der christliche Totenkult fußt auf der Erdbestattung in Katakomben, später in Kirchhöfen. Diese Nekropolen waren ummauert – Totenstädte. Auch Jesus von Nazareth wurde ganzkörperlich und in einer Höhle bestattet. Dasselbe gilt auch für andere Religionen aus dem semitischen Kulturraum. Juden und Muslime vertrauen ihre Leichname der Erde an. Bei den Muslimen sind die Toten oft nur in ein Tuch gehüllt.
Das Einäschern ist eine rigorose Methode und energetisch äußerst aufwendig. Die Kremation kehrt der Tradition des Abendlands den Rücken zu. Womöglich macht das ihre Attraktivität aus. Sie gilt als schöne Alternative. Und sie bricht radikal mit dem antiken Ideal der Erdbestattung.
Noch etwas: Das Verbrennen galt den Christen lange Zeit als tiefste Schmach. Christliche Fürsten und die Inquisitionen ließen Ketzer und Hexen verbrennen, um deren Seelen zu „reinigen“, wie es damals hieß. Umgekehrt wurden die frühen Christen durch Feuer und Feuertod gemartert. Diese langwährenden Erfahrungen bedeuten keine Empfehlung für eine Feuerbestattung. Das Verbrennen hat in diesem Weltbild den Schwefelgeruch nicht verloren.
Die Freunde der Friedwälder denken anders. Das Thema Grabpflege entfällt komplett. Die Bäume pflegen sich selbst. Den Rest entsorgt die Natur. Sie nimmt den Hinterbliebenen – wenn es denn welche gibt – die letzten Sorgen ab. Und der Wald reguliert sich selbst, wächst und vergisst.

Das Ende der Geschichten
Wald oder Stein? Es ist letztlich auch eine ästhetische Entscheidung, wo und wie man einen Menschen beisetzt. Eine Qualität werden die schönen Wälder freilich nie erreichen: Sie errichten keine Erinnerung, sondern stehen für das Auslöschen. Sie sind – mit und ohne Namensschildchen – nahezu kulturlos. Während konventionelle Grabsteine ganze Familiengeschichten erzählen, bleiben Tanne und Buche stumm. Bewegende Skulpturen wird man dort nie finden. Eine Darstellung wie das „Grab eines jungen Mädchens“ (Freiburg, Herdern) ist nur dem klassischen Friedhof vorbehalten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem an diesem Grab kein Blümchen abgelegt wird.
Die Kosten
Die Laufzeit in St. Katharina beträgt 99 Jahre. Es gibt zwei Möglichkeiten der Belegung: Man kann einen ganzen Baum für sich, seine Familie und Freunde erwerben (3200 Euro). zwölf Urnen dürfen rund um diesen Baum in einem Abstand von zwei Metern versenkt werden. Oder: Eine einzelne Stätte kostet 500 Euro, Bäume mit Seeblick mehr. Der Name ist verpflichtend, er wird auf einer kleinen Plakette angebracht.